Große Pause, Höllenlärm. Sollt man meinen. Doch im St. Ursula-Gymnasium in Freiburg, einer von insgesamt etwa 120 Mädchenschulen, die es in Deutschland noch gibt, geht es auch zur Pausenzeit erstaunlich ruhig zu. Etwas mehr als 1000 Mädchen lernen hier. Vor dem siebenstöckigen straßenseitig gelegenen Schulgebäude, einem eher funktionalen Bau aus den End-60ern, verzehren Oberstufen-Schülerinnen auf einer Freifläche mit bunten Bänken ihre Pausenbrote. Auf dem Schulhof zwischen dem Rosabau (der so heißt, weil er an die gleichnamige Rosastraße angrenzt), dem Mittelbau und dem Hauptgebäude spielt eine Hand voll Fünftklässlerinnen Fangen. Außer mal einem Kreischer hört man wenig. „Wir haben hier weniger Disziplinprobleme als ich es aus meiner Zeit als Lehrer an einer gemischten Schule kenne, es ist in jeder Hinsicht wesentlich ruhiger“, sagt Thomas Ernst, der Französisch und Geschichte unterrichtet. Vielleicht nimmt der Lärmpegel auf dem Schulhof zu, wenn die beiden Fußballtore stehen. Die sollen in den nächsten Wochen angeliefert werden, zusammen mit dem Basketballkorb, den Tischtennisplatten und mehreren Einrädern. Gekickt werden kann dann direkt vor der neu gebaute Aula mit der großen Glasfront. „Die Tore haben sich unsere Schülerinnen dringend gewünscht. Wir haben hier einige Mädchen, die begeistert Fußball spielen“, sagt Direktor Thomas Hummel.
Mädchen, die gerne kicken. Die bei der Schüler-Ingenieur Akademie mitmachen, einer Kooperation mit regionalen Unternehmen und dem Freiburg-Seminar für Mathematik und Naturwissenschaften. Mädchen, die bei der Solar-Challenge Solarmobile bauen oder bei Mathe-Wettbewerben Preise einheimsen und ganz selbstverständlich im Schulorchester am Schlagzeug sitzen, in der Theater-AG bei den Aufführungen die Männerrollen übernehmen, die im Schulgottesdienst ministrieren.
Eigentlich alles nichts Besonderes, vor allem nicht im Jahr 2022. Oder doch?
„Unsere Schülerinnen machen alles, was normalerweise auf beide Geschlechter übertragen wird. Für sie ist das vollkommen normal und alltäglich“, sagt Silvia Spitznagel, Lehrerin für Wirtschaft, Geographie und Sport. „Wir bringen die Mädchen in Rollen, die sie sonst vielleicht nicht hätten“, sagt Direktor Thomas Hummel. Hummel ist seit 18 Jahren Schulleiter in St. Ursula. „Monoedukation ist eine große Chance, Kinder in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zur fördern“, meint Hummel. Nur in der Kursstufe, also in der 11. und 12. Klasse, da könnte er sich auch vorstellen, dass gemischte Kurse gut funktionieren. Über Kooperationen mit benachbarten Gymnasien habe man schon oft nachgedacht, aber bislang sei das am immensen Organisationsaufwand gescheitert.
Wie sehen das die Schülerinnen selbst, wie ist das denn, lernen nur mit Mädchen? Charlotta steckt gerade mitten im Abitur und gehört zum Ensemble der Theater-AG. Eigentlich, meint Charlotta, sei sie eher zurückhaltend. „Aber vor Leuten reden, selbstbewusst auf der Bühne stehen, ein starkes Mädchen sein – das alles hätte ich an einer Schule mit Jungs nicht so gut gelernt“, meint sie. Kate, ebenfalls Abiturientin, ergänzt: „Ich werde hier gar nicht als Mädchen wahrgenommen, das Geschlecht spielt keine Rolle.“ Und Estera aus der 11. Klasse sagt: „Ich kann mich hier entfalten, so, wie es für mich gut ist.“
Und das wäre an einer gemischten Schule nicht möglich gewesen? Estera schüttelt entschieden den Kopf. Gerade in Mathematik und anderen naturwissenschaftlichen Fächern werde man hier einfach besser gefördert, meint sie. Als Beweis führt sie an, dass in der Oberstufe ebenso viele Mädchen den Schwerpunkt Mathe gewählt haben wie den Schwerpunkt Deutsch – jeweils drei Kurse gibt es pro Fach.
Auf die Frage, was sie später mal beruflich machen möchte, weiß Sechstklässlerin Nazarin sofort eine Antwort: Gehirnchirurgin möchte sie werden. Jara, ihre Klassenkameradin, will auch Ärztin werden, Fachrichtung bislang unklar.
Auf den ersten Blick geht das Konzept also auf – wenn Mädchen mit Mädchen lernen, trauen sie sich mehr zu in den Bereichen Naturwissenschaften.
Jürgen Budde, Professor für Erziehungswissenschaften an der Europa-Universität Flensburg, ist kein Befürworter der Monoedukation. „Schulsysteme sollten sich an alle richten“, sagt er, „die Annahme, dass Mädchen als Gruppe spezifische Eigenschaften haben, die anders sind als die von Jungs, stimmt nach unseren Forschungsergebnissen so nicht. Das ist eine geschlechterstereotype Unterstellung.“ Ihn stört das Defizit-Argument. „Da wird gesagt, was jemand nicht kann oder hat – etwa Kompetenz in MINT- Fächern“, sagt Budde, „vielleicht sollten Lehrkräfte ihren Unterricht anders und differenzierter gestalten, damit die Inhalte bei allen ankommen.“
Was das Unterrichten an der Freiburger Mädchenschule angeht, so sind sich die meisten Lehrkräfte einig: es ist einfacher. „Eben weil wir weniger Disziplinprobleme haben, kommt man besser voran im Stoff“, sagt Lehrer Thomas Ernst. „Aber manchmal habe ich Sorge, dass es hier zu nett ist. Ich sehe für mich als Lehrer die Gefahr, dass man sich so einkuschelt.“ Auch Schulleiter Hummel weiß: „Man muss aufpassen, dass man nicht auf einer Insel landet und außen tobt das Leben. Wir wollen, dass die Mädchen Rückgrat haben, wenn sie unsere Schule verlassen.“
Für viele Mädchen sei es sehr wohltuend, nur unter Mädchen zu lernen, meint Dietfried Scherer. Er ist Stiftungsdirektor der Schulstiftung der Erzdiözese Freiburg, zu der auch das St. Ursula Gymnasium gehört. Von den 32 Stiftungs-Schulen an 14 Standorten sind neun Mädchenschulen. Mit der deutschlandweiten Schulreform im Jahr 1968 wurden in vielen Bundesländern die staatlichen monoedukativen Schulen für beide Geschlechter geöffnet. Private Träger konnten selbst entscheiden, ob sie koedukativ arbeiten wollten. „Wir haben bis jetzt an keinem Standort die Situation, dass man das Konzept überdenken müsste“, sagt Scherer. Mit anderen Worten: Die Nachfrage ist da. Besonders hoch sei sie übrigens mit dem Aufkommen der feministischen Bewegung gewesen. „Da waren wir plötzlich die Speerspitze des Fortschritts“, sagt Scherer.
Dass das Gymnasium St. Ursula eine Mädchenschule ist, zählt heute nicht mehr unbedingt als Argument dafür, warum sich Eltern oder Schülerinnen gerade für diese Schule entscheiden. Sondern eher die gute Lage so nah am Bahnhof, das mathematisch-naturwissenschaftliche, sprachliche und musikalisch-künstlerische Profil und die offene Atmosphäre. „Mädchenschulen sind in privater Trägerschaft. Sie werden insbesondere von Menschen ausgesucht, die genug kulturelles Kapital und Kompetenzen darin haben, Bildungsangebote für ihre Kinder zu planen“, sagt Erziehungswissenschaftler Budde, „Letztendlich kommt es auf die Qualität der pädagogischen Arbeit an.“
Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2022