„Kinder müssen lernen, Langeweile auszuhalten“ 

Interview mit Christian Montag, Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm. Montag und sein Team forschen seit mehreren Jahren zu Fragen der Computer-, Internet- und Smartphonenutzung und dazu, welche Auswirkungen die Mediennutzung auf das Gehirn hat. 

Zwei Jahre Pandemie, viele Eltern müssen zuhause arbeiten, die Schulen waren monatelang geschlossen – was heißt das für die Online-Mediennutzung bei Schülerinnen und Schülern? 
Christian Montag: In den letzten zwei Jahren haben Milliarden Menschen eine ordentliche Schippe auf ihre Bildschirmzeit draufgelegt. Das gilt natürlich auch für Kinder und Jugendliche. In vielen Familien entstand durch die Pandemie Stress, also eine negative Situation. Der Online-Konsum – besonders auf Social Media & Co. – kann da natürlich eine kurzweilige Ablenkung darstellen. Und sicherlich haben auch einige Eltern I-Pad oder Smartphone mit Filmen und Spielen als digitalen Babysitter genutzt, um in Ruhe arbeiten zu können – verständlich ist das ja in der pandemischen Lage.

Der Klassiker: Das Kind quengelt, bekommt ein Smartphone in die Hand gedrückt und ist augenblicklich still. Worin besteht dieser ungeheure Reiz? 
Unser Gehirn reagiert grundsätzlich stark auf neuartige Stimuli. Wenn um uns herum etwas passiert, das aus dem Rahmen herausfällt, schenken wir dem besondere Beachtung, weil tief in uns das Wissen verankert ist: das Neue könnte für unser Überleben bedeutsam sein. Wir brauchen die neuartigen Informationen, um zum Beispiel an für uns wichtige Ressourcen zu kommen, aber auch um uns in komplexen sozialen Gefügen zu verorten. Diese psychischen Prozesse sind unserer DNA über einen langen evolutionären Prozess eingebaut worden. 

Auf dem Smartphone ist die Taktrate von neuartigen Dingen, die auf uns einprasseln, extrem hoch – vor allem im Vergleich zu dem, was häufig in unserer direkten Umgebung geschieht. Das Smartphone bietet ständig neue Informationsinhalte. Kinder und Jugendliche fesselt die unendliche Fülle an Bewegtbildern, die ja sehr einfach zu konsumieren sind. Instagram und Tik Tok sind bei Jugendlichen auch deshalb so erfolgreich, weil sie sehr visuelle Medien sind, in die wir unsere Aufmerksamkeit kurz hineinschwenken können. Diese kleinen Informations-Häppchen können wir wegsnacken, ohne dafür viel kognitive Energie aufwenden zu müssen.

Kann es helfen, die Zeit zu limitieren, die Kinder oder Jugendliche vor dem Bildschirm verbringen?Die Diskussion wird meiner Meinung nach falsch geführt. Ich schlage vor, anders an die Fragestellung heranzugehen: Hat das Kind genügend Bewegung, genügend Spielzeit, kommt es in der Schule gut mit, ist die soziale Entwicklung in Ordnung, wie sieht das Familienleben aus? Wenn da alles gut ist, ist die noch übrige Online-Zeit nicht besonders relevant. Man muss natürlich auch inhaltlich genauer hinsehen: Ist das, was Sohn oder Tochter am Bildschirm machen, Teil der Hausaufgaben oder reine Computer-Daddelei – und sind die Inhalte altersgemäß? Deswegen tue ich mich extrem schwer damit, pauschal zu sagen, so und so viel Stunden vor dem Bildschirm sind ein Problem. 

Übrigens listet die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 2019 die Gaming Disorder, also die Computerspielstörung, als eigenständige Diagnose anerkannt hat, in ihrem Kriterienkatalog die Länge der Bildschirmzeit nicht unter den Kriterien für das Störungsbild auf.

Was sind Alarmzeichen bei einer Online-Sucht, gerade bei Kindern und Jugendlichen?
Laut der WHO müssen bei einer Computerspielstörung folgende Kriterien zu beobachten sein: Kontrollverlust über die Computerspielaktivität, also: ich will eigentlich weniger Zeit für Online-Spiele aufwenden, schaffe das aber nicht. Weiterhin: Wenn trotz erster Warnzeichen weiter Zeit mit Online-Spielen verbracht wird. Etwa wenn ein Jugendlicher mehrfach verpennt und die Klausur verpasst hat, weil die Online-Session am Abend zu lang war. Zusätzlich steht das Computerspielverhalten so sehr im Vordergrund, dass Dinge, die früher wichtig waren, immer mehr nach hinten rutschen. Und der notwendige Schweregrad der Beeinträchtigung muss gegeben sein, etwa dadurch, dass der Ausbildungsplatz aufs Spiel gesetzt wird. Wenn all diese Kriterien zutreffen, spricht man von einer Computerspielstörung, spätestens dann ist professionelle Hilfe wichtig. 

Welche Auswirkung kann es haben, wenn das Smartphone in den Lernzeiten – egal ob zuhause oder in der Schule – ständig präsent ist? 
Unser Gehirn ist wie ein Muskel, den wir trainieren müssen, um unsere Aufmerksamkeit geschult und fokussiert auf bestimmte Dinge lenken zu können. Das gilt natürlich auch für den schulischen Kontext. In der Psychologie sprechen wir in diesem Zusammenhang auch von Surface Learning und Deep Learning, also von einem oberflächlichen Lernmodus oder von einem vertieften Lernmodus. 

Über das Smartphone werden wir den ganzen Tag mit Nachrichten bombardiert. Das führt zu einer Fragmentierung des Alltags, das heißt, unser Alltag ist durch zahlreiche Unterbrechungen gekennzeichnet. Die Einheiten zwischen den Unterbrechungen sind inzwischen so kurz geworden, dass der vertiefte Lernmodus, das Deep Learning, in dem ich mich auf einen Text sehr tief einlasse, meine Schreibarbeit ordentlich mache oder ich einfach mal über Dinge nachdenke, immer kürzer werden. Das ist meiner Auffassung nach gerade für das heranwachsende Gehirn, das eine Wissensgrundlage fürs Leben schaffen möchte, Gift.

Kann man diese negativen Auswirkungen denn messen? 
In einer eigenen Studie haben wir beobachtet, dass eine längere Smartphonenutzung mit schlechteren Noten einhergeht. Und die Ergebnisse einer Studie des Centre for Economic Performance London School of Economics and Political Science aus dem Jahr 2015 legen nahe, dass ein Smartphone-Verbot in Schulen zu besseren Noten führt – davon haben vor allem die schwächeren Schüler profitiert. Generell ist der Bereich aber nach wie vor zu wenig erforscht und die Wirkrichtung zwischen hoher Smartphone-Nutzung und schlechten Noten ist in einigen Studien unklar: Ist es wirklich so, dass viel Smartphonenutzung zu schlechten Noten führt, oder sind vielleicht diejenigen, die schlechte Noten haben, häufiger auf dem Smartphone unterwegs, um sich von ihrer Misere abzulenken, quasi als Selbstmedikation?

Bei der Nutzung von Medien: Welchen Einfluss haben Eltern auf ihre Kinder? 
Hier ist die Vorbildfunktion wichtig. In einer eigenen Studie konnten wir beobachten, dass das elterliche Computerspielverhalten mit dem der Kinder im Zusammenhang steht. Spielen die Eltern Computerspiele, tun dies auch eher die Kinder. Gleiches gilt für Tendenzen zur Computerspielstörung. Eine Erklärung für unsere Beobachtungen ist, dass Kinder ihre Eltern nachahmen.

Weil unser Alltag im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie so stark fragmentiert ist, brauchen wir mehr Struktur. Für Kinder kann das so aussehen: morgens pünktlich aufstehen, dann kommen unterschiedliche Lebensaufgaben, Kindergarten oder Schule. Und zuhause: Gemeinsame Mahlzeiten – ohne Smartphone. 

Sobald Kinder anfangen, die Uhrzeit lesen zu können, hilft eine klassische Armbanduhr dabei, den Alltag zu strukturieren – übrigens auch den Alltag der Erwachsenen. Denn wenn ich jedes Mal auf Digitalgeräte schaue, um die Uhrzeit zu wissen, dann bleibe ich schon wieder auf dem Gerät hängen, wo die nächste Nachricht aufpoppt. 

Was bleibt denn bei einem Zuviel an Mediennutzung auf der Strecke?
Meines Erachtens unsere Kreativität. Eine wichtige Voraussetzung für Kreativität ist ja erst mal, nichts zu machen, den Gedanken nachzuhängen. Wir sprechen hier von Mind Wandering. Kinder müssen lernen, Langeweile auszuhalten. Denn Langeweile ist zunächst kein schöner Gemütszustand. Da sitzt man da mit sich, und das ist etwas, das jeder lernen muss – Langeweile ertragen und sie hoffentlich in etwas Kreatives umzumünzen.

Im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie ist die Langeweile fast abgeschafft worden, denn die Tech-Konzerne buhlen ja um jede freie Sekunde. Wir alle kennen diese reflexartigen Momente im Alltag: Sobald wir auch nur erahnen, dass uns langweilig sein könnte, haben wir die Ablenkung in Form des Smartphones mit seinen vielen Apps in der Hand. 

Und wie könnte man dem entgegenwirken?
Wir sollten unseren Kindern beibringen, dass es gut ist, mal nichts zu machen und nur die Umgebung mit allen Sinnen wahrzunehmen. Ich weiß von mir selbst, dass mir die besten Ideen kommen, wenn ich eine Stunde ohne digitale Begleiter laufen gehe. Ich denke, dass wir uns für die Zukunft Refugien erhalten müssen, in denen wir über den Alltag und das Erlebte nachdenken können, ohne dabei dauernd abgelenkt zu werden.

Zur Person:
Prof. Dr. Christian Montag (44) ist seit 2014 Professor für Molekulare Psychologie an der Universität Ulm. Seit 2016 hält er sich als Visiting-Professor regelmäßig in China auf. Dort arbeitet er an der University of Electronic Science and Technology of China in Chengdu. Er hat mehrere Bücher zu den Themen Persönlichkeit und über die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Menschen geschrieben. Sein neustes Buch beschreibt die psychologischen Stategien von Social Media Anbietern („Du gehörst uns! – Die psychologischen Stategien von Facebook, TikTok, Snapchat & Co und wie wir uns vor der großen Manipulation schützen“, erschienen im Blessing-Verlag).

Hilfsangebote bei Online-Sucht gibt es hier: www.scavis.net 

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 13. Mai 2022