Das mit der Trinkkur ist eine ernste Sache. Durch die Karlsbader Prachtstraßen schlendern und gelegentlich an der Schnabeltasse nuckeln, die man mal an dieser, mal an jeder heißen Quelle aufgetankt hat – das hat so gar nichts mit einer echten Trinkkur zu tun. „Wenn man es richtig macht, wirkt die Kur wie eine innere Dusche“, erklärt Jitka, unsere Stadtführerin. Sich selbst und ihrem Mann verordnet die resolute Rentnerin zwei Mal pro Jahr eine dreiwöchige Kur. Die funktioniert so: Heilwasser gibt es nur auf nüchternen Magen zu regelmäßigen Zeiten. Dazu kommen Bäder, Massagen und Lymphdrainage und nicht zu vergessen: Spaziergänge in den Wäldern rund um Karlsbad. Getrunken – langsam getrunken – wird nicht irgendein Wasser aus irgendeiner Quelle, sondern nur das, was ihnen der Arzt empfohlen hat. „Beim letzten Mal war’s aus der Schlangenquelle im Dvořák-Park in der Gartenkolonnade“, sagt Jitka und führt uns gleich dort hin. 28,1 Grad warm sprudelt das Heilwasser aus dem Hals der gusseisernen Schlange. „Wir trinken nur aus den traditionellen Schnabeltassen, aus Plastikbechern wäre es zu heiß“, warnt Jitka, „das Wasser kühlt so besser auf Trinktemperatur ab.“ Die Schlangenquelle enthält weniger Mineralien als die anderen Quellen, dafür ist ihr Co2-Gehalt höher. „Gut für das Gehirn und das Immunsystem“, sagt die Stadtführerin.
Nur ein paar Meter weiter, hinter einer verglasten Stahlbetonkolonnade, schießt fauchend und mit viel Wasserdampf ein Geysir in die Höhe – der sogenannte Sprudel. „Unser Wahrzeichen“, sagt Jitka, „der Sprudel ist unsere heißeste Quelle. Direkt daraus trinken kann man nicht, er wird abgeleitet, kühlt unterwegs ab.“
Aus mehr als 80 Quellen strömt in und um Karlsbad Heilwasser, 15 davon werden für Trinkkuren genutzt. Ähnliche Zahlen gelten für Marienbad und Franzensbad, lernen wir auf unserer Bäderreise. Jede Quelle soll gegen ein anderes Leiden helfen, etwa bei Verdauungsproblemen, Rückenleiden, Osteoporose – innerlich wie äußerlich angewendet.
Kaiser, Zaren und Könige und Herzöge mit ihrem Gefolge, Dichter und Denker, Menschen mit Geld und Geltungsdrang hat es schon immer nach Karlsbad – und übrigens auch nach Marienbad und das jüngere Franzensbad – gezogen. Eine kleine Namensauswahl prominenter Kurgäste: Friedrich Schiller, Theodor Fontane, Leo Tolstoj, Ludwig van Beethoven, Bismarck, Karl Marx, Atatürk und natürlich Goethe. Der fand es im Bäderdreieck so grandios, dass er zwischen 1785 und 1823 17 mehrwöchige Reisen unternahm. Zusammengerechnet weilte Goethe gut drei Jahre in den damals aufstrebenden Bäderorten – übrigens nicht nur wegen des Heilwassers, sondern auch diverser jungen Damen wegen und natürlich, um ungestört arbeiten zu können und um interessante Menschen aus unterschiedlichen Nationen zu treffen.
Während wir mit Jitka weiter durch die Kolonnaden schlendern, metert unsere Stadtführerin die Namen weiterer Promis herunter, die Karlsbad mit ihrer Anwesenheit noch mehr Glamour verliehen haben: Jonny Depp, Michael Cain, Leonardo DiCaprio, Whoopi Goldberg, Daniel Craig, Queen Latifah – Jitka ist schier nicht mehr zu stoppen beim Auflisten der Namen. Der Grund für so viel Prominenz waren Film-Dreharbeiten – viele davon im pompösen Hotel Pupp – und die internationalen Filmfestspiele, die hier bis heute ausgerichtet werden, in einem in den 70er Jahren erbauten Brutalismus-Bau, dem Hotel Thermal. Das klotzige Gebäude, das so gar nicht zu der sonstigen eleganten Architektur passt, war uns schon vorher nicht unbedingt positiv aufgefallen. Jitka erklärt, dass das Hotel Thermal einem Filmprojektor und einer Filmspule nachempfunden ist. Derzeit wird es saniert, samt umfangreicher Poolanlage auf dem Felsvorsprung. „Die wollen den Pool doch tatsächlich mit Thermalwasser füllen – ob das die Leitungen aushalten?“ zweifelt Jitka.
Nach einem Café im Grandhotel Pupp, bei dem wir rekonstruieren, welche Szenen aus Casino Royal genau hier gedreht wurden, verabschieden wir uns von unserer Stadtführerin und machen uns auf den Weg in den nächsten Kurort, Richtung Franzensbad, immer der Eger nach. Einen kleinen Aufstieg bis nach Loket haben wir zu meistern, doch der Ort belohnt mit einer prächtigen Burg – auch ein Casino Royal-Drehort – und einer hübsch herausgeputzten mittelalterlichen Innenstadt.
Weiter geht’s flussaufwärts. Es ist Wochenende, und eine ganze Anzahl Touristen lassen sich in bunten Rafting-Booten den Fluss runtertreiben. Ein paar Hügel später liegt Franzensbad vor uns. Was für ein Gegensatz zum quirligen Karlsbad oder zum beschaulichen Marienbad. Schachbrettartig breitet sich die kleine Stadt in der Ebene aus, baulich wie aus einem Guss. Bei der Gründung hieß es, dass hier nichts in der Umgebung von der eigentlichen Kur ablenken soll. Der Plan geht auf. Franzensbad wirkt wie eine Kulisse für einen Historienfilm, elegant, top renoviert – aber zugegebenermaßen etwas leblos. Wir stellen die Räder vor der Glauberquelle ab und probieren einen vorsichtigen Schluck – ganz schön bitter und salzig. Die Glauberquellen – Glauberuv pramen auf tschechisch – haben weltweit den höchsten Natriumsulfat-Anteil. Insgesamt zählen wir in Franzensbad vier Glauberquellen, und jede soll gegen eine andere Malaise helfen – gegen Blutarmut, Atemwegserkrankung, Verdauungsprobleme oder bei Nierenproblemen. Baden kann man übrigens in Franzensbad im ganz großen Stil: Einige Hotels haben große Wellness-Bereiche und die Gartenanlagen beim Hotel Pawlik wurden sogar zu einem Freischwimmbad mit Wasserrutsche umgebaut.
Abends laufen wir durch die ruhigen Straßen, außer uns ist kein Mensch unterwegs. Nur im Hotel Savoy haut der Pianist tapfer in die Tasten des verstimmen Klaviers. Und es wird sogar getanzt, die Stimmung ist spitze, der Altersdurchschnitt 70 plus. Der Barkeeper kommt kaum hinterher mit dem Getränkenachschub.
Gedanklich geht es zurück nach Marienbad, dem lieblichsten unter den drei großen tschechischen Bädern, die 2021 zum UNESCO-Welterbe geadelt wurden. Insgesamt elf Bäder gehören zu den „Great Spas of Europe“. Etwas Marienbad-Schwärmerei muss jetzt sein: Schon wie die kleine Stadt so hübsch in die hügelige Landschaft eingebettet liegt. Dann die großen Hotelkästen, mal mehr, mal weniger gut erhalten. Die luftige, lichte Kolonnade, in der man vortrefflich promenieren kann. Die Gäste und ihre Geschichte, zumindest in der Vergangenheit nicht weniger prominent als in Karlsbad. Und dann die Badekuren – für auf unserer Rundreise leider nicht genug Zeit blieb. Am Stilvollstensoll die Badekur im Hotel Nove Lazne sein, im Foyer (selbstredend auch dieses sehr prachtvoll) haben wir uns immerhin die Flyer durchgelesen: von pulsierenden Magnettherapien ist da die Rede und von Trockengasbädern mit CO2. Gut zur Rekonvaleszenz nach einer COVID-Erkrankung ist die Baderei angeblich überall. Einige Hotels in unserem Bäderdreieck bieten spezielle Corona-Erholungskuren an. Könnte man ja mal probieren, falls einen das Virus doch noch packen sollte.
Unser Rückweg nach Bayern führt uns durch das moorige Naturreservat Soos. Links und rechts der Straße führen Stege übers Moor. Aus sogenannten Mofetten, kleinen schlammigen Erdlöchern blubbert und zischt Kohlendioxyd – die letzten Beweise für vulkanische Aktivitäten. Der Sooster Schlamm wurde früher für Kuranwendungen bis nach Karlsbad transportiert.
Die letzten 80 Kilometer nach Deutschland verfliegen wie nix. Schön ist die Strecke, abwechslungsreich, wir passieren einsame Wiesen und dichte Wälder. Als wir kurz nach der Grenze Rast machen und die Tannen so gut riechen, kommt der Gedanke: Schon schön, die Baderei und die Heilwässer – aber Waldbaden hat auch etwas. Vor allem, wenn man dabei auf seinem Fahrrad durch die Wälder fahren kann.
Veröffentlicht in MYBIKE 6/2022