Kammlage

Bloß nicht das Steinchen vergessen. Es ist noch früh am Morgen, über der Werra steigt der Nebel auf. So hoch, dass er fast die Fahrbahn der gigantischen Werratalbrücke verdeckt – ein echtes Autobahnbrückenmonster, was da Mitte der 80er Jahre über den Fluss gespannt wurde. Idyllisch ist anders. Auf dem kurzen Weg zum Ufer, dorthin, wo das Flüsschen Hörsel in die Werra mündet, haben Wanderer ihre durchgelaufenen Schuhe aufgehängt, eine Rennsteig-Eigenheit, von denen wir noch einige kennenlernen werden. Schnell ein Steinchen aufgeklaubt und in die Trikottasche gesteckt. Knappe 200 Kilometer später, am Ende unserer Tour, wird der kleine Kiesel in der Saale versenkt.

Aber jetzt müssen wir erst mal an Höhe gewinnen. Einer der härtesten Anstiege unserer Tour – vor allem der längste – fordert uns gleich am Anfang. Über eine grobe, wirklich steile Schotterstraße quälen wir uns Höhenmeter um Höhenmeter bis Clausberg – und werden gleich mit ein paar Ausruh-Kilometern auf glattem Asphalt, und später, auf einem breiten Schotter-Wanderweg, mit einem imposanten Blick auf die Wartburg belohnt. Die Wanderer zischen an einem Rastplatz schon ihr erstes Rennsteig-Bierchen und beißen in die Vesperbrote. Wanderer sehen wir oft, aber nicht immer sind Rennsteig-Radweg und Rennsteig-Wanderweg identisch. Wir folgen dem  grünen R mit dem schwarzen Radfahrer. Die Wanderer orientieren sich seit mehr als hundert Jahren an dem weißen R, der sogenannten Mareile, benannt nach der Tochter eines Försters im Gast- und Forsthaus „Weidmannsheil“ – wo im Jahr 1896 der Rennsteigverein gegründet wurde.

Den Rennsteig selbst gibt es schon ewig, bereits in Schriften aus dem 9. Jahrhundert finden sich Hinweise auf seine Existenz, urkundlich bezeugt ist er erstmals im Jahr 1330. Ab da wurde er immer wieder als wichtiger Verbindungs-Höhenweg genutzt; er diente als Kurierpfad und auch als Landesgrenze zwischen den verschiedenen Thüringer Kleinstaaten. Das beweisen heute noch die mehr als 1300 alten Grenzsteine entlang des Rennsteigs, die ältesten stammen aus dem 16. Jahrhundert.

Auch wir kommen immer wieder an den moosüberwachsenen Steinen vorbei, vor allem, wenn wir mal nicht auf den breiten Wanderwegen, sondern über schmalere Wege geleitet werden. Apropos Wege und Wegezustand: Mit den Crossrädern kommen wir überall problemlos hoch und runter, die Wege sind allesamt geschottert, selten verwurzelt oder technisch schwierig zu fahren und gerade in den letzten beiden Dritteln rollen wir auch immer wieder zwischendurch über glatten Asphalt.

Der erste organisiert Runst, so heißt noch heute der Rennsteiglauf, und manche Wanderer grüßen sich immer noch mit einem kernigen „Gut Runst“, datiert auf 1920.  Durch die Teilung Deutschlands musste der seit Anfang der 70er Jahre stattfindende GutsMuth-Reinsteiglauf seine Strecke ändern, die innerdeutsche Grenze verlief durch die Strecke. 1990 wurde erstmals der westdeutsche Teil des Rennsteigs in den Lauf einbezogen: Bei einem Gruppenlauf von Blankenstein nach Neuhaus mussten die Läufer achtmal die zum Teil noch vollständig erhaltenen Grenzanlagen passieren. Der GutsMuths-Lauf gilt heute  mit 15.000 Teilnehmern als ist der größte Crosslauf Europas. Besondere Kennzeichen: Der  magenfreundliche Haferbrei – genannt Schleim – an den Verpflegungsstellen und die Kloßpartys am Vorabend in den Startorten sowie die Läuferpartys im Zielort. Beim Supermarathon überwinden die Läufer stattliche 72,7 Kilometer und 800 Höhenmeter. Respekt!

Wir sind kurz vorm Ziel unserer ersten Etappe am Fun Park Großer Inselsberg – der Inselsberg selbst, bekannt für seine rampenartige Auffahrt, ist nicht auf der Strecke. Die letzten 20 Kilometer vor Oberhof ziehen sich ganz schön durch den Wald, und es wird fast schon etwas dämmrig, als wir endlich die Silhouette des steil aufragenden Panoramahotels und die berühmten Wintersportanlagen in Oberhof erreichen. Für’s erste geschafft!

Die restlichen zwei Drittel des Rennsteigs gestalten sich wesentlich weniger spektakulär, ein schönes Auf- und Ab, mal auf Waldwegen, mal auf Schotter, mal auf Asphalt. Und als wir uns in großen Kurven runter nach Blankenstein schwingen, suchen wir als erstes den Weg zum Fluß  – das Steinchen aus der Werra muss in die Saale. Erst jetzt haben wir ihn wirklcih geschafft, den Rennsteig.
erschienen in TOUR-Magazin 11/2019