Gemütlich! Luka aus der Klasse 4a kuschelt sich in die Lesekrake, einen mehr als zwei Meter großen, an der Wand im Flur ihrer Schule befestigten eiförmigen Holzrahmen. Über ihr wacht ein großer Krakenkopf. Die weichen orangeroten Fangarme aus Teppich dienen der Viertklässlerin als bequeme Liegeunterlage. Lukas Freundin hat auch Platz in der Krake. Wenn die Mädchen ihre Ruhe haben wollen, können sie auf einer Seite eine Platte anbringen. Die sieht aus wie ein U-Boot und fungiert als Sichtschutz. Die Idee für das Möbel stammt von Luka selbst – der Flur, in dem die Lesekrake hängt, ist unterwasserblau gestrichen. Klar, dass da ein Wassertier hin muss. „Kraken gehören zu meinen Lieblingstieren“, sagt Luka. Sie und ihre Mitschüler aus der Evangelischen Schule Neukölln in Berlin haben die Krake im Workshop lernRAUMlabor entworfen. Noch ist das Krakentier ein Provisorium aus Sperrholz und Pappe, aber mit etwas Glück könnte sie oder ein anderes Modell, das die Schüler entworfen haben, in Serienproduktion gehen.
„In einem Jahr möchte ich das hier realisiert sehen“, sagt Andreas Hammon optimistisch. Der Architekt, Pädagoge und Schulraumentwickler hat die lernRAUMlabore entwickelt und in Schulen in der Schweiz, Österreich, Italien und Süddeutschland angeboten. Beim Workshop in Berlin ist er auch mit dabei. Zu Beginn des Projekts haben die Schüler von Klasse vier bis zehn zunächst gemeinsam mit Architekturstudierenden darüber nachgedacht und diskutiert, wie die Schulmöbel aussehen müssten, die sie sich wünschen würden – Möbel, die ihren Schulalltag bunter und das Lernen leichter machen würden. Schnell kam heraus: sie mögen runde Formen, es darf bunt sein. Und man soll darin die Sitz- oder Liegeposition wechseln und sich zurückziehen können. Im Lauf der Woche machen die Schüler in der zum Projektraum umgewidmeten Schulturnhalle die ersten Entwurfszeichnungen, dann bauen sie mit Hilfe der Studierenden Modelle im Maßstab 1:10 und schließlich – der Höhepunkt – konstruieren sie die Möbel in Originalgröße und stellen sie der ganzen Schule vor.
Emely ist in der 9. Klasse und präsentiert zusammen mit Elias, Sabah, Rinah und Valerie aus der 4b ihre Sitzempore, eine Art Hängematte mit Baldachin aus hellem, dicken Stoff, die platzsparend an der Decke befestigt wird. Sitzen kann man in der Empore auf einem mit knallgrünem Stoff bezogenen Brett – grün, weil das an ein Baumhaus erinnert, sagt Rinah. „Das könnte man bei Gruppenarbeit benutzen oder wenn man sich nicht gut fühlt und alleine sein möchte“, erklärt sie.
Die Evangelische Schule Berlin Neukölln leidet massiv unter Platzproblemen – so wie viele andere Schulen. „Wir haben den Hortbetrieb ausgebaut, das Gebäude wird zu klein, wir müssen die Nachmittagsbetreuung zum Teil in die Klassenräume verlegen, das ist nicht optimal“, sagt Schulleiter Thorsten Knauer-Huckauf, „Unsere Schüler sind bis zu zehn Stunden täglich in der Schule. Auch deshalb brauchen sie dringend Rückzugsräume.“ Außerdem soll die Schule saniert und erweitert werden.
Schulraumentwickler Andreas Hammon wird in solchen Fällen oft dazu geholt. „Wenn die Umgebung passt, wird das Lernen leichter“, sagt er, „Man kann das mit passendem Schuhwerk auf einer großen Wanderung vergleichen: drückt der Schuh, ermüden wir schneller und unsere Aufmerksamkeit ist gebunden.“ Gerade beim Ganztagsbetrieb und den erweiterten Anforderungen an Schule bräuchten Schüler eine vielfältigere Umgebung, um effektiv lernen zu können: Unterschiedliche Lern-Settings für individualisierte Arbeitsphasen – entweder alleine, zu zweit oder in Gruppen – aber auch für Entspannung, Erholung und Rückzug.
„In dieser Schule sind die Klassenräume ziemlich klein und entsprechen nicht mehr den heutigen Anforderungen an zeitgemäßen Unterricht, flexibel und in Gruppen zu arbeiten“, sagt Architekt Henry Ripke. Er lehrt an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) als Architekturprofessor und ist mit seinen Studierenden beim Workshop mit dabei. Susanne Schneider-Weller, eine seiner Studierenden, hat den Schülern beim Bauen der Lesekrake geholfen. „Ich fand es toll, mit den Leuten zu arbeiten, bei denen die Arbeit auch wirklich ankommen muss. Das hat man sonst selten“, sagt sie, „In Schulen ist wenig Raum für Individualität, alles ist vorgegeben. Schön, wenn das mal anders ist.“
Für Schulen, die mit Problemen wie dauerdefekten Schultoiletten oder maroden Gebäuden kämpfen müssen, scheint so etwas wie der Bau individueller Schulmöbel Luxussorgen zu sein. Andreas Hammon verdeutlicht, dass sein LernRAUMlabor keine überflüssige Beschäftigungstherapie ist. Man dürfe die finanzielle Seite nicht zu sehr nach vorne stellen, meint er: „Lernen heute findet zum Großteil noch in Gebäuden statt, deren Werte, Haltungen und Lernverständnis dem 19. und 20. Jahrhundert entstammen – dabei braucht es manchmal nicht viel, um Schule auch räumlich neu zu denken.“
Die Evangelische Schulstiftung in der EKBO, die das Projekt initiiert hat, wird mit dem LernRAUMlabor noch an drei weitere Schulen in Berlin und Brandenburg gehen, um es dann an allen 32 Schulen der Schulstiftung anzubieten. Wenn sich die Prototypen bewähren, könnten sie in Serienproduktion gehen. Bei der Präsentation in der Neuköllner Schule ist schon jetzt der Produktentwickler einer Möbelproduktionsfirma dabei – gerade einfachere Möbel wie die Lesekrake oder den Lernelefanten, einen ebenfalls an der Wand befestigten Rückzugsraum, hält er durchaus für serientauglich.
Und die Finanzierung? Frank Olie, der Vorsitzende der Schulstiftung, ist gerade dabei, Sponsoren von dem Projekt zu überzeugen, die dann die Produktionskosten für die Möbel übernehmen könnten. Olie findet das Programm wichtig und hofft, dass es auch auf andere Schulen Ausstrahlungskraft hat: „Schulentwicklung fängt heute in den Köpfen an und setzt sich in den Räumen fort.“
Luka möchte gar nicht mehr raus aus ihrer Lesekrake – die übrigens auch noch älteren Schülern gefällt. „Wir können die Krake flexibel umbauen, nur der Holzrahmen ist fest“, erklärt Architekturstudentin Susanne Schneider-Weller. Für die größeren Schüler lässt sich der Krakenkopf abnehmen – und der Innenraum anders ausgestalten. „Zum Beispiel mit einer Lichterkette oder noch mehr Kissen“, sagt Susanne Schneider Weller. Vielleicht wird es in ein paar Jahren dann mal in der Neuköllner Schule so aussehen, wie es sich Emely schon lange wünscht: „So, dass ich sage: hey, das ist eine supercoole Schule, da will ich jeden Tag hin.“
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2019
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