„Am Wochenende fahren sie im Minutentakt raus“, sagt Wolfram, genannt Wolle Schäfer. Der Mann hat Recht. Es ist Samstagmorgen, tief im Südosten, Müggelheimer Straße Ecke Salvator-Allende Straße im Berliner Stadtteil Köpenick. Immer wieder ziehen Radlergruppen aus der Stadt raus in Richtung Wald. Alleine, zu zweit, zu dritt und mehr. Vereinsfahrer jeden Alters, bärtige Hipstergruppen in Retro-Trikots auf Vintage-Rädern, Paare, Frauen, Solo-Fahrer. Man hört italienische Sprachfetzen, englische, polnische, deutsche. Wolle Schäfer gehört mit seinen 69 Jahren zu den älteren Radlern. Er ist Ostberliner und hat spät angefangen, erst mit 39, nach der Wende. Dann aber richtig: Im Jahr 2000 hat er den Verein Radteam Cöpenick mitgegründet, vorher fuhr er beim RV 1888 in Kreuzberg mit. „Hab auch den einen oder anderen Blumenpott gewonnen und auf dem Treppchen gestanden“, sagt Wolle bescheiden. Einen der Blumenpötte hat Wolle übrigens bei den Berliner Meisterschaften 2012 ergattert: Als Kriteriumsmeister U 60. Noch heute fährt der Berufsmusiker viel und gerne. Im wilden Südosten, wo er selbst lebt, kennt er sich so gut aus wie kaum ein anderer.

Wer’s ruhiger will, fährt auf’s Land – nach Brandenburg, genau gesagt nach Fürstenwalde. Foto: ©Martin Kirchner
Sein Tipp: Wer vom Stadtzentrum aus hierher möchte, packt das Rad in die S-Bahn, fährt bis Erkner, Spindlersfeld oder Köpenick und startet da. Auch ein guter Weg Richtung Süden oder Südosten führt über die sogenannte Ostkrone – nicht zu verwechseln mit der anderen „Krone“ im Westen Berlins, dem Kronprinzessinnenweg im Grunewald, schon seit Jahrzehnten eine der Haupttrainingsstrecken für Radsportler. Die Ostkrone liegt zwischen Autobahn und Teltowkanal – Radler und Skater sind hier unter sich. Wolle Schäfer kann direkt vor der Haustüre aus losfahren, er lebt in Köpenick. Seine Feierabendrunde führt über den R1 zum Müggelsee oder ein Stück weiter nach Bad Saarow. Es rollt sich gut in den schattigen Wäldern auf schönen glatten Straßen bis in die Spreeauen. Je weiter man rausfährt, umso ruhiger wird es. Wenig Autoverkehr, hübsch gewundene Straßen, sattes Grün. Tut gut nach einem Tag in der Stadt. Und alleine fahren muss hier keiner: „Je wärmer es wird, desto mehr finden sich ein“, meint Wolle.
Nicht nur im Südosten Berlins gibt es gute Trainingsmöglichkeiten, sondern auch im Norden, über eine der alten DDR-Trainingsstrecke Richtung Wandlitz und noch weiter raus bis in die Schorfheide. Oder ganz im Süden, wo man hinterm Flughafen BER über schattigen Allee-Straßen bis nach Königswusterhausen oder Zossen fahren kann. Und natürlich der Klassiker im Westen: Am S-Bahnhof Wannsee trifft man immer andere Radler, dann geht es von dort aus über die Krone zur Havelchaussee auf den Karlberg, genannt Willi. Für Berliner Verhältnisse stolze 78,5 m hoch, ein Endmoränenhügel der letzten Eiszeit und benannt nach Prinz Carl, dem dritten Sohn König Friedrich Wilhelms III. und Königin Luise. Schön, aber nicht gerade einsam ist es auch entlang der Havel durch Potsdam vorbei an Sacrow.
„Klar, Brandenburg ist super, aber ich fahre auch gerne kreuz und quer durch Berlin, einfach, um den Kopf frei zu kriegen“, sagt Juliane Schumacher. Sie fährt Gravelbike und betreibt seit ein paar Jahren einen eigenen Blog. Radelmädchen heißt sie da und erzählt über ihre Reisen mit dem Rad. Auf ihren Touren durch Berlin hat sie ihre Kamera immer dabei. „Der Schnitt ist mir egal“, sagt sie. „Wenn ich was Schönes sehe, halte ich einfach an und mache ein Bild für meinen Blog. Ich bin gerne alleine“ Und wenn es sie doch mal unter Leute in die Innenstadt zieht, schaut sie beim Rapha Clubhaus vorbei oder trinkt bei Steel-Vintage in der Wilhelmstraße einen Café und schaut sich die neusten Räder an. „Ich mag Stahlfahrräder“, schwärmt Juliane. Sie hat das Thema Radfahren langsam angehen lassen; erst mit einem alten Alurad mit Tiefeinstieg, genannt „die Krücke“ von Lichtenberg, wo sie wohnt, zur Uni. 12,5 Kilometer pro Strecke, immerhin. Als dann immer mehr Freunde Rad fuhren, kam Juliane einfach mit – 100 Kilometer mit der Krücke über den Oderdeich bei Gegenwind. Weil das auf die Dauer mit dem Alu-Trecker doch zu mühsam wurde, legt sie sich 2018 ihr erstes Gravelbike zu – und tourte damit gleich eine Woche alleine durch Norwegen, um eine Freundin zu besuchen. Seitdem vergeht kaum ein Monat ohne Reise oder größere Tour. Juliane kann direkt vor der Haustüre aus losfahren: „Nur 6,5 Kilometer, dann bin ich schon in Brandenburg“, sagt sie. Bei ihren Touren durch Berlin sucht sie sich Strecken über Nebenstraßen und durch Kleingartenanlagen, etwa nach Norden raus über den Panke-Radweg bis nach Basdorf. Oder bei ihr um die Ecke ins Erpetal, dann rüber zum Müggelsee und hoch in die Kanonenberge, „ein paar Höhenmeter einbauen“, sagt Juliane. Denn so schön es in und um Berlin ist – eins fehlt: die Berge.
erschienen in: TOUR-Magazin 8/2021