Bloß nicht fuchteln!

In Ausbildungsmodul vier tauchen erstmals die Avatare auf. Mit ihnen kann man auf einen Aussichtsturm klettern, sich entspannt auf eine virtuelle Blumenwiese setzen oder ausprobieren, was für ein Gefühl es ist, direkt neben einem schäumenden sprudelnden Wildbach zu stehen. Bedrohlich? Abenteuerlich? „Die Avatare nutze ich in der Ausbildung zum Online-Coach, wenn es um Problemanalyse und Lösungsstrategie geht. Sie haben eine starke strukturierende Kraft“, erklärt Harald Geißler. Der Erziehungswissenschaftler beschäftigt sich schon seit 2006 mit virtuellem Coaching und bietet entsprechende Ausbildungen an, die er im Lauf der Jahre immer weiter ausgearbeitet hat. Auch virtuelle Welten und mit ihnen die Avatare gehören zum neun Monate dauernden Ausbildungsprogramm, das zukünftige Online-Coaches bei ihm durchlaufen – selbstverständlich komplett digital. Online-Gruppenphasen mit maximal zehn Teilnehmern wechseln sich hierbei mit Selbststudiums-Phasen ab. In diesen müssen die Teilnehmer Fragebögen beantworten oder gestellte Aufgaben vertiefen.

Seit Frühjahr letzten Jahres, also mit Beginn der Pandemie, ist die Nachfrage nach seinen Kursen massiv gestiegen. Das beobachten auch andere Fortbildungsanbieter. Etwa die Haufe-Akademie, bei der man sich in drei Monaten zum Online-Coach fortbilden lassen kann. Die Fortbildung ging im Mai 2020 an den Start, geplant war sie schon ein Jahr zuvor. Denn die Vorteile des Online-Coachings liegen klar auf der Hand: keine Reisekosten, flexibel Zeiten. „Wir haben viele international tätige Business-Kunden, die Coaching als Personalentwicklungsmaßnahme nutzen wollen“, sagt Stefanie Göppert, die als Produktmanagerin bei Haufe für die Coaching-Weiterbildungen zuständig ist. Auch die Steinbeis-Akademie für Mediation, Soziales und Recht D

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Manche Kunden fühlen sich bei einem Coaching in den eigenen vier Wänden wesentlich wohler. Foto:©Tatyana.aksenova/photocase.com

bietet seit Mai letzten Jahres eine Kurz-Ausbildung zum E-Coach an, bestehend aus fünf Modulen. „Die Nachfrage war überwältigend“, sagt Sascha Lippe. Er ist selbst Coach und hat das neue Programm bei Steinbeis gemeinsam mit seinem Kollegen Jonathan Barth erarbeitet. „Menschen im Homeoffice wollten die Zeit sinnvoll nutzen, und freiberuflich arbeitende Coachs, die bisher nur in Präsenz gecoacht haben, haben sich so weitergebildet – auch, damit ihnen nicht die Existenzgrundlage wegbricht.“ Auch bei Steinbeis war die Idee, eine Fortbildung zum Onlinecoach ins Programm zu nehmen, schon vor der Pandemie da – die konkrete Umsetzung passierte dann im Frühjahr letzten Jahres.

Lippe, der sowohl in Präsenz als auch online coacht, sieht im E-Coaching viele Vorteile: „Man kann sehr flexibel arbeiten in einer Art und Weise, wie es in Präsenz gar nicht möglich wäre.“ Noch ein Plus: „Für den Kunden ist das diskreter. Es gibt ja durchaus unangenehme Coaching-Themen. Viele Klienten machen das viel lieber zuhause, sie öffnen sich lieber im privaten Umfeld“, ist seine Erfahrung.

Hat das Online-Coaching auch Grenzen? Klar, sagt Sascha Lippe: „Ich bin ein sehr empathischer Coach. Ich stelle mich zum Beispiel gerne mal neben meinen Coachee, wenn ich merke, dass es für ihn emotional schwierig wird. Die fehlende körperliche Präsenz ist schon eine Herausforderung.“ Beim Online-Coaching sieht man das Gegenüber zur maximal bis zur Brust. Ob der Coachee nervös mit den Händen flattert oder mit den Füssen scharrt, erkennt der Coach nicht. Eine umso wichtigere Rolle spiele deshalb das Sprechen, sagt Sascha Lippe. „Ich muss mit Worten Halt geben.“ Und ganz genau hinhören, was der Coachee sagt. „Ich muss mein Gegenüber lesen können und in Sekunden verstehen: was ist das für ein Typ Mensch“, sagt Kristina Schwarze. Die Volljuristin arbeitet als In-House-Mediatorin bei einem international tätigen Versicherungsunternehmen mit Schwerpunkt Rechtsschutzversicherung und hat im Juni 2020 ihre Fortbildung als Online-Coach bei der Steinbeis-Akademie abgeschlossen. „Durch die Ausbildung habe ich vieles dazugelernt, was mir bei meiner täglichen Arbeit weiterhilft“, sagt sie. Das fing bei technischen Dingen an wie der Kameraeinstellung (nie von unten oder oben, eher auf Augenhöhe) bis zur Körperhaltung. „Tabu ist beispielsweise mit den Händen stark vor der Kamera zu gestikulieren“,  sagt Kristina Schwarze. „Zudem war es für mich äußerst hilfreich, verschiedene aktuelle Tools kennenzulernen, mit denen die Ergebnisse des Online-Gesprächs passend visualisiert werden können“. Gut fand sie auch, dass bei ihrer Fortbildung fast wie nebenbei Coaching-Grundkenntnisse aufgefrischt wurden.

Auch Trainer Harald Geißler weiß, wie wichtig in der Ausbildung zum E-Coach die Sprache ist – eben weil viele nonverbale Informationen wegfallen. „Die auditiven Daten haben einen hohen diagnostischen Wert, das gesprochene Wort ist superwichtig“, sagt Geißler. Er arbeitet deshalb in seiner Ausbildung mit Voice-Mailings, bei denen die Teilnehmer ihre Botschaften auf den Punkt genau als Sprachnachricht verschicken und so trainieren, auf das eigene Sprechen und die Stimme zu achten.

Wie auch der Begriff Coach ist auch der Online-Coach kein geschützter Begriff. Theoretisch darf sich jeder E-Coach nennen. Doch Coaching-Verbände sind dabei, auch für die Online-Coaches Zertifizierungsverfahren zu entwickeln. Für den E-Trainer gibt es beim Deutschen Verband für Coaching und Training (dvct) e.V. schon ein Zertifizierungssystem, das für den E-Coach wird diesen Sommer fertig sein, hofft dvct-Vorstand  Birgit Thedens. Die Zertifizierung zum E-Trainers setzt 150 Stunden Präsenztrainingsausbildung voraus plus 60 Ausbildungsstunden E-Training, ähnliches wird für den E-Coach angestrebt. „Aus meiner Sicht braucht ein professioneller E-Coach die Basis einer Face-to-Face-Ausbildung und Praxiserfahrung“, sagt Birgit Thedens. Ihr Kollege Christopher Rauen, Vorsitzender des Deutschen Bundesverband Coaching e. V. sieht es ähnlich: „Coaches benötigen für eine Tätigkeit als Online-Coach zum einen eine technische Qualifizierung. Sie müssen die Medien wie Zoom und MS Teams souverän beherrschen. Daneben ist aber auch eine inhaltliche Weiterqualifizierung sinnvoll, denn nicht alle Methoden der Präsenzarbeit lassen sich eins zu eins ins Online-Coaching übertragen.“

Und nach der Pandemie? Zurück ins Präsenz-Coaching? „Das bleibt!“, ist sich Trainer Sascha Lippe sicher, „Ich erlebe bei den Auftraggebern einen unglaublichen Digitalschub. Auch in ganz konventionellen Bereichen wie Verwaltung. Warum sollte das wieder weggehen?“ Für die Anbieter von Fortbildungen zum Online-Coach könnte das einen Auftrags-Boom auslösen. Denn anders als beim Präsenz-Coaching, bei dem man einige Zeit auf das Gelernte vertrauen kann, muss man sich beim E-Coaching permanent weiterbilden, immer die neusten Apps und Trends kennen und anwenden können, sicher mit der sich ständig weiterentwicklenden Technik umgehen können. Ein gutes Netzwerk und kompetente Kollegen, mit denen man sich austauschen kann, können hierbei helfen. „Ich beobachte bei uns im Verband, dass das Miteinander unter den Kollegen extrem aktiviert wurde. Sonst sind die Mitglieder eher eine passive Masse. Jetzt suchen sie den Austausch, vernetzen sich. Wir haben reagiert und bieten Weiterbildungsmaßnahmen wie Techniksprechstunden und ähnliches an.“ Was das Coachen selbst angeht, hat Fachfrach Thedens eine klare Präferenz: „Wenn ich wählen kann, finde ich es auch netter, in Präsenz zu coachen“, gibt Thedens zu. „Wirksam ist jedoch beides gleich. Für die Zukunft denke ich, dass es ein sehr befruchtendes und gedeihliches Nebeineinander geben wird.“
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 23. April 2021