Immer der Nase nach

Auf einen 50 Meter hohen Schornstein hochkraxeln und mit einem Plastiksäckchen Rauch aus dem Schlot abfüllen ist für so gut wie jeden Menschen – gelinde gesagt – eine Herausforderung. Wenn man aber wie Marc Andresen unter Höhenangst leidet, kostet das noch mehr Überwindung. „Mir wurde ganz anders, als mir gesagt wurde, dass ich da oben die Probe entnehmen sollte“, sagt der 32-Jährige. Aber es half nichts, er musste hoch. Für seinen Arbeitgeber Odournet  sollte der Ingenieur im west-russischen Krasnodar am Schlot einer Tabakfabrik Geruchsproben entnehmen. Die Geschäftsleitung hatte die Odournet GmbH aus Kiel damit beauftragt. Dabei ging es nicht um wirklich gesundheitsschädigende Schadstoffe – die wurden schon vorher weggefiltert – sondern um Gerüche, deren Konzentration und damit Zumutbarkeit für Anwohner bestimmen werden musste. Also: Zähne zusammenbeißen, das Kniezittern unterdrücken und die Leiter hoch, dann einen etwa 30 cm langen Plastikschlauch mit dem Rauch füllen, der aus dem Schlot quillt, und langsam, Stufe für Stufe, wieder runter. Geschafft. Nach der Analyse schlugen Andresen und seine Mitarbeiter ein Konzept zur Geruchsminimierung vor: Ein Biofilter, also eine Art Beet in Größe eines Bolzplatzes, gefüllt mit Wurzelholz und Kokosfasern, wurde fest auf dem Dach der Fabrik installiert. Die darin enthaltenen Mikroorganismen zerlegen die Geruchsstoffe in geruchsneutrale Stoffe wie Kohlenstoffdioxid und Wasser und bannen damit den Gestank.

Aufträge wie diese waren über Jahre Alltag für Marc Andresen. In Chile, im Oman, Hongkong und in so gut wie allen europäischen Ländern hat er schon Messungen durchgeführt. Mal bei 50 Grad in der prallen Sonne wie etwas bei einer Ölraffinerie in Oman, mal in schwindelerregender Höhe wie in Russland.

Wer sich als Ingenieur dafür entscheidet, im Bereich der Olfaktometrie, also der Messung von Gerüchen, zu arbeiten, darf nicht zimperlich sein. „Wir haben oft mit wirklich üblen Gerüchen zu tun“, sagt Marc Andresen, „Etwa in Gießereien. Da stinkt es so beißend, dass man sofort Kopfschmerzen bekommt. Oder in Kläranlagen.“ Besonders schlimm sei es in Tierkörperverwertungsanlagen – übrigens nicht nur wegen des Gestanks: „Da liegen Tierkadaver herum, in riesigen Tanks lagert Tierblut“, sagt Andresen.

Heute muss der Kieler seltener vor Ort; er ist jetzt vor allem für den Kundensupport und das Marketing zuständig. Denn seine Firma misst nicht nur Gerüche, sondern stellt auch so genannte Olfaktometer her und vertreibt sie. Heinrich Mannebeck, einer der Gründungsgesellschafter des Unternehmens und Vater des Principal Consultats Dietmar Mannebeck, hat in den 70er Jahren als Maschinenbauingenieur ein solches Meßgerät entwickelt. Olfaktometer dienen dazu, die genaue Geruchskonzentration zu bestimmen. Prüfer, deren Geruchsempfindlichkeit zuvor getestet wurde, bekommen am Olfaktometer Geruchsproben in unterschiedlichen Verdünnungen angeboten. Sie signalisieren, ab welcher Konzentration – Geruchsschwelle im Fachjargon – sie einen Geruch erschnuppern können. Gemessen wird in GE/m³ – Geruchs-Einheiten je Kubikmeter.

Schwindelfrei sollte man schon sein. Foto: ©odoeurnet

Schwindelfrei sollte man schon sein. Foto: ©odoeurnet

In Deutschland ist der Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkungen im Bundesimmissionsschutzgesetz verankert. Die darin aufgeführte Geruchsimmissionsrichtlinie (GIRL) schreibt vor, wie häufig es riechen darf. Das ist relevant, sobald eine neue Anlage gebaut werden soll, die eine potenzielle Gestanksquelle sein könnte – zum Beispiel ein Klärwerk oder eine Schweinemastanlage. Der Bau wird nur dann genehmigt, wenn die Geruchs-Prognosen der Richtlinien enspricht. „Das Thema Geruch ist in ganz Europa groß“, sagt Isabelle Franzen-Reuter, die beim Verein Deutscher Ingenieure (VDI) den Fachbereich Umweltqualität leitet, „Wenn es stinkt, steht der Anwohner auf den Barrikaden und die Behörden müssen etwas unternehmen.“

Auf den ersten Blick sind Gerüche – im Gegensatz zu Luftschadstoffen – nicht gesundheitsschädlich. Anders als etwa Feinstaub können sie sich, da sie gasförmig sind, nicht in menschlichen Organen ablagern. „Geruch macht nicht unbedingt krank, hat aber eine belästigende Wirkung“, so Isabelle Franzen-Reuter. Und die kann psychosomatische Beschwerden hervorrufen. Kopfschmerzen etwa, Schlafstörungen, erhöhten Blutdruck oder andere chronische Stressreaktionen.

Während sich die Belastung durch Schadstoffe recht unkompliziert durch Meßgeräte ermitteln lässt, ist es beim Geruch etwas komplizierter. Zumal es oft subjektiv ist, welcher Geruch als unangenehm empfunden wird: Der eine liebt den Duft von frischen Brötchen, für andere ist die Großbäckerei um die Ecke ein Grund, die Behörden einzuschalten.

In Deutschland zählt man etwa 20 Büros, die sich mit der Messung von Gerüchen beschäftigen. Unter ihnen einige so genannte Multimessanlagen wie die TÜVs – sie messen nicht nur Gerüche, sondern auch Lärm-, Feinstaub- und Schadstoffbelastungen. Peter Wenzel, Ingenieur für Umwelttechnologie und Geschäftsführer bei Uppenkamp und Partner im münsterländischen Ahaus, beschäftigt sich als Sachverständiger für Immissionsschutz vor allem mit Schall und Gerüchen. „Egal, ob es nach frischen Brötchen oder Tierkadavern riecht – wichtig ist die Häufigkeit der Geruchswahrnehmung pro Kalenderjahr“, sagt Wenzel. Und die darf in Wohngebieten 10 Prozent nicht überschreiten. „Wenn die Belastung höher ist, beraten wir die Betrieben, wie sie Abhilfe schaffen können“, sagt Wenzel. „Das Schöne an unserer Arbeit ist die enorme Vielseitigkeit. Man kommt rum, ist mal in einem Stahlwerk, mal in einer Bäckerei, mal zu einem Ortstermin mit einem Landwirt, muss mit Architekten, Planern und Behörden verhandeln“, sagt Peter Wenzel.

Manche Ingenieure, die im Bereich der Olfaktometrie arbeiten, messen aber auch, wie stark Produkte Gerüche absondern. Das ist insbesondere im Bereich der Automobilindustrie ein immer größer werdendes Arbeitsfeld: Wer mit geschlossenen Fenstern und laufender Klimaananlage durch die Lande fährt, nimmt natürlich den Geruch im Autoinnenraum stärker wahr. Hartmut Kovácz, Ingenieur für Verfahrenstechnik und Leiter des Teams Innenraumemmission bei Mercedes Benz: „Der Premiumanspruch der Kunden wird immer höher, wir müssen inzwischen alle Sinne bedienen – auch den Geruchssinn.“ Auch sein Team arbeitet mit Olfaktometern, um die Geruchsintensität von Fahrzeug und Autoteilen genau messen zu können – wobei hier als weiterer Messparameter die Hedonik dazukommt: Riecht es angenehm oder eher abstoßend? Bewertet wird so: 0 für kaum wahrnehmbar – das trifft auf Werkstoffe wie Glas oder Stein zu – 6 für unerträglich.  Was schlechter als 3 benotet wird, darf nicht verbaut werden.

Die Menschen sind sensibler geworden – auch, was Gerüche angeht. Noch in den 70er Jahren war die Geruchsbelästigung wesentlich höher. „Wenn man nichts riecht, haben wir unsere Arbeit gut gemacht“, sagt Ingenieur Andresen.

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 24. Mai 2014