Lange Gänge, flackernde Neonröhren an der Decke und dieser ganz speziellen Geruch nach Schulputzmittel: daran erinnern sich wohl fast alle, die vor der Jahrtausendwende Schüler waren. Nach dem eigenen Zuhause ist die Schule das erste Gebäude, dessen Architektur sich fest ins Gedächtnis eingräbt. „Schulbauten prägen uns“, sagt Natascha Meuser, Architektin und Professorin an der Hochschule Anhalt in Dessau, „Kinder und Jugendliche verbringen hier einen großen Teil ihres Tages. In der Schule erleben sie sich selbst zum ersten Mal außerhalb des Elternhauses als aktives Mitglied der Gesellschaft. Da ist die Organisation und Gestaltung des Gehäuses, in dem diese Persönlichkeitsbildung stattfindet, besonders wichtig. Schulen machen das Zusammenspiel zwischen Individuum und Gesellschaft architektonisch erfahrbar.“
Weil die Lernbedingungen heute nur noch wenig mit denen vor 30 oder noch mehr Jahren zu tun haben, muss sich die Schularchitektur den veränderten Gegebenheiten anpassen. Zumindest sollte sie das. So wird kaum noch frontal unterrichtet, stattdessen gibt es Gruppenarbeit – und die Forderung nach dem Einzug digitaler Medien in den Schulalltag. „Schulbauten sind permanent dem Wandel der Lehrmethoden unterworfen“, verdeutlicht Natascha Meuser. „ Schularchitektur ist dann besonders gut, wenn sie viele Generationen an Schülern überdauern kann.“
In der Grundschule in Schulzendorf bei Berlin, einer wachsenden Gemeinde am südlichen Stadtrand, hat man vor zehn Jahren einen bestehenden Schulbau erweitert, modernisiert und von außen optisch zu einem Ganzen zusammengefasst. Die Fassade des Erweiterungsbaus, ein zu DDR-Zeiten gebauter H-förmiger Bau Typ „Magdeburg“, umschließt eine aus Weiden geflochtene Hülle. Im Inneren des Gebäudes dominieren kräftige Farben; jede Etage hat ein eigenes Farbkonzept – und jedes Klassenzimmer eine individuelle Farbe. Über letztere durften die Lehrer selbst entscheiden. „Wir hätten lieber etwas gedecktere Farben in den Klassenräumen gehabt, die öffentlichen Räume sind schon sehr aufgeregt“, räumt Architekt Christian Roth ein, der mit dem Erweiterungsbau betraut war. Die Schule sieht mit ihrer dominanten Außenhaut und den verglasten Atrien im Innern immer noch zeitgemäß aus, doch der Platz wird schon wieder knapp: Bei der Modernisierung waren die Planer von jährlich zwei ersten Klassen ausgegangen. Weil immer mehr Familien ziehen an den Stadtrand ziehen, werden inzwischen drei erste Klassen eingeschult, im kommenden Schuljahr könnten es sogar vier werden. Langsam wird es eng in der Schule – zum Glück könnten die Lehrer in Fachräume ausweichen.
Derzeit werden viele Schulen neu gebaut, und das ist dringend nötig. Im Mai 2018 ging die Kultusministerkonferenz von etwa 300.000 zusätzlichen Schülern im Jahr 2030 im Vergleich zu 2016 aus. In den nächsten zehn Jahren braucht beispielsweise Berlin mehr als 60 Schulneubauten. In der Hauptstadt wird man der Masse an Neubauten wegen vor allem im Grundschulbereich aus Zeit- und Kostengründen mit bauähnlichen Prototypen arbeiten.
Auch andere wachsenden Regionen planen und bauen Schulen. Nürnberg zum Beispiel. Günter Ebert, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Geschäftsbereich Schule & Sport der Stadt Nürnberg und dort mit der pädagogischen Schulbauplanung befasst, nennt neben dem Bevölkerungszuwachs weitere Gründe für die Planungen: Gymnasien gehen wieder von der G8-Struktur zurück zum G9, damit steigt der Raumbedarf. Außerdem bieten die meisten Schulen Ganztagsbetreuung an, im Grundschulalter wird darauf zukünftig ein Rechtsanspruch bestehen. Dafür braucht man natürlich geeignete Aufenthaltsräume und Schulmensen für die Mittagsverpflegung.
Die Probleme, die sich beim Bauen abzeichnen – und übrigens auf alle prosperierenden Ballungsgebiete zutreffen – skizziert Ebert so: die Flächen, die innerstädtisch bebaut werden können, werden immer knapper. Gerade Grundschüler haben aber wegen des sogenannten Sprengelprinzips einen Anspruch auf einen Schulplatz in erreichbarer Nähe. „Kurze Beine, kurze Wege“ nennen das die Nürnberger. Dort wird deshalb überlegt, eine Berufsschule zu verlegen, um in dem Gebäude in der wachsenden Südstadt eine zusätzliche Grundschule anbieten zu können.
Wenn man nach einem Beispiel für einen gelungenen Schulneubau sucht, findet man ihn in Nürnberg St. Leonhardt. Da war ein ausgefeiltes pädagogisches Konzept Grundvoraussetzung für den Schulneubau. „Dass wir das Konzept eins zu eins auf den Schulbau übertragen konnten, ist ein doppelter Lottogewinn“, freut sich Rektorin Tanja Klieber heute noch. In einem anonymen Architekturwettbewerb entschied sich die Jury für den Entwurf des Aachener Büros Hausmann Architekten, das sich schon seit Jahren auf Schulbauten spezialisiert hat. Das Gelände war nicht einfach, die zu bebauende Fläche lag eingezwängt zwischen Bahnschienen und Straßen auf einem ehemaligen Schlachthofgelände der Stadt Nürnberg. „Wenn man auf einem großen, freien Feld bauen kann, ist die Grundlage natürlich anders“, sagt Architekt Frank Hausmann. Im Fall der Michael-Ende-Schule löste Hausmann das Platzproblem unter anderen durch einen Allwetterplatz auf dem Dach der Sporthalle, wo die Schüler das ganze Jahr über im Freien Fußball spielen können. Die Vorgabe, Hort und Schule miteinander zu kombinieren, hielten die Architekten ein, indem sie die Horträume mitten in der Schule platzierten. So wird auch räumlich deutlich, dass Erzieherteam und Lehrer eng zusammenarbeiten. „Die Kinder verbringen sehr viel Zeit in der Schule. Sie sollen sich bei uns wohl fühlen“, sagt Rektorin Klieber. Eine besondere Rolle spielt neben dem Hort die Mensa, wo jeden Tag in der offenen Küche frisch gekocht wird. Tanja Klieber: „Uns war wichtig, dass die Kinder sehen, wie Essen zubereitet wird. Dampfende Töpfe, das hat etwas von Zuhause.“
Cluster statt starre Klassenräume gelten inzwischen bei so gut wie allen Schulneubauten oder – Umbauten als Standard. „Die klassische Flurschule gibt es bei Neubauten so gut wie gar nicht mehr“, sagt Hausmann. Die Sache mit den Clustern sieht in der Michael-Ende-Schule so aus: Pro Jahrgansstufe gruppieren sich fünf Klassenräume sichelförmig um einen gemeinsamen nutzbaren Raum, das Lernatelier. Außerdem teilen sich zwei Klassenzimmer einen Gruppenraum. Gläserne Wände zwischen den Räumen lassen den Clusterbereich großzügig und offen erscheinen. Die Räume sind so gut isoliert, dass man sich zwar sehen kann, aber nicht hört. Dafür sorgen Holzdecken und Vorhänge, beides gut funktionierende Schallschlucker. Und mehr noch: „Die Vorhänge vermitteln ein Gefühl von Wärme, von Heimeligkeit“, sagt Architekt Hausmann. Fast wie in einer Wohnstube, die der Pädagoge Heinrich Pestalozzi schon im 19. Jahrhundert als ideale Lernumgebung nannte.
Nicht selten wird das Schulgebäude als dritter Pädagoge bezeichnet. Architekturprofessorin Meuser mag diese Bezeichnung nicht: „Ich würde nie so weit gehen, dem Gebäude eineaben wir uns doch längst verabschiedet.“ Dennoch – gute, durchdachte Architektur kann eine Menge dazu beitragen, dass sich Menschen in ihr wohlfühlen. Dem stimmt auch Natascha Meuser zu: „Gestalteter Raum hat immer eine Wirkung auf den Menschen.“
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 25. Januar 2019
Foto: ©O. Heinl