Lernen, was Liebe ist

Sexualkunde-Unterricht erleben Schülerinnen und Schüler oft als langweilig oder verkrampft. Die neue Weiterbildung „Teach Love“ soll Lehrerkräften helfen, das zu ändern

Tanja Johannsen hat nicht die besten Erinnerungen an den Sexualkundeunterricht ihrer Schulzeit: „In der vierten Klasse kam eine Frau zu uns, hat Tampons und Binden verteilt und ein bisshen was dazu erklärt. Und im Sexualkundeunterricht in der siebten Klasse ging es fast nur um Schwangerschaftsverhütung und biologische Abläufe.“ Gespräche über Beziehungen, über sexuelle Identität – Fehlanzeige. Nur einmal sei der Satz gefallen: Schwul sein ist auch okay.
Wenn sie später Sexualkunde unterrichtet, möchte Tanja Johannsen das anders machen. Derzeit studiert die 30-Jährige an der Europa Universität Flensburg auf Lehramt Verbraucherbildung und Deutsch. Sie hat vor Kurzem den ersten Kurs der Sexualkunde-Fortbildung „Teach Love“ an ihrer Uni absolviert. Auch wenn sie keine Biolo- gielehrerin ist, wird sie aller Voraussicht nach Sexualkunde unterrichten. Denn im Schulgesetz des Landes Schleswig-Holstein, wo sie tätig sein wird, heißt es: „Auftrag der Schule ist es auch, die Sexualerziehung durch die Eltern in altersgemäßer Weise durch fächerübergreifenden Sexualkundeunterricht zu ergänzen.“
Zwar steht seit 1968 bundesweit fest, dass Sexualkunde an der Schule gelehrt werden muss – in der Grundschule sowie auch an weiterführenden Schulen. Doch wie er sich in der Praxis gestaltet, ist von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Seit 2016 sieht die Regierung zudem vor, dass im Sexualkundeunterricht sexuelle Vielfalt thematisiert werden muss.
Jedenfalls verfügen die wenigsten Lehrerinnen und Lehrer über pädagogisches Wissen und inhaltliche Kompetenz zur Vermittlung von Sexualkunde. Das liegt daran, dass es in ihrer Ausbildung so gut wie gar nicht vorkommt. „Das ist ein Riesenproblem“, sagt Johanna Degen. Sie ist Sozialpsychologin an der Uni Flensburg, arbeitet als Paartherapeutin und hat zusammen mit einem Team von Wissenschaftlern und Therapeuten die Fortbildungsplattform Teach Love gegründet. Aus ihren For- schungen dazu weiß sie, dass gerade einmal 20 Prozent der Lehrkräfte etwas zum Thema Sexualkunde im Studium gelernt haben. „Lehramtsstudierende unserer Uni haben sich an uns gewandt, weil sie schlichtweg verzweifelt waren“, sagt sie. Nicht nur Studierende, auch aktive Lehre- rinnen und Lehrer fühlen sich mit dem Thema allein gelassen. Meist ist das Unterrichtsmaterial veraltet. „Deshalb haben wir beschlossen, ein Weiterbildungsformat zu entwickeln, das dabei hilft, diese Lücke zu schließen“, sagt Psychologin Degen. Sie möchte in der Fortbildung weniger Wissen zu Biologie und Verhütung vermitteln, sondern ihren Teilnehmerinnen und Teilnehmern nahebringen, wie sie mit Jugendlichen im Sexualkundeunterricht über Beiehungen sprechen können, über Körperbilder, über Liebe. Daher auch der Name der Plattform – Teach Love.
Im Sommer 2021 startete das Pilotprojekt mit einem Online-Kurs. Mit gut verständlichen, wissenschaftlich fundierten Erklärvideos, Reflexionsvorlagen und Transferaufgaben. So erklärte beispiels- weise eine Hebamme in einem Video, was bei Geburt und Schwangerschaft passiert; in dieser ersten Teach-Love-Session wur- de auch die Begriffe genau aufgeschlüs- selt, die hinter dem Akronym LGBTIQ stecken. Dass das Teach-Love-Team auch auf Instagram, Youtube und Facebook aktiv ist, versteht sich fast von selbst. Für den ersten Kurs hatten die Lehrenden 30 Plätze vorgesehen, doch rasch mussten sie auf 90 erweitern. „Wir wurden förmlich überrannt“, sagt Johanna Degen. Für den nächsten Kurs, der diesen September kommen soll, stehen bereits mehrere Hundert Personen auf der Warteliste.
Inhaltlich sind die Kurse in drei Teile aufgebaut: Erst mal geht es um Information und Fachwissen, dann um die Reflexion und die persönliche Entwicklung, und in Schritt drei um den Wissenstransfer und die Anwendung. Schritt zwei hält Psychologin Degen für besonders wichtig: „Wenn die Lehrperson selbst noch Unklarheiten hat oder sich noch nicht mit dem eigenen Körper und ihrer Sexualität auseinander- gesetzt hat, ist es schwierig, das Thema zu vermitteln“, sagt Degen. „Auch Lehrerinnen und Lehrer treten dem Thema als sexuelle Wesen gegenüber. Darüber müssen sie sich bewusst werden, bevor es um die anderen geht.“ Zusätzlich zu den digitalen Kursen fand im April ein Präsenztag statt. Aber auch bei der Online-Veranstaltung können sich die Teilnehmer miteinander austauschen und Johanna Degen und ihrem Team Fragen stellen.
Wie wurde Tanja Johannsen auf Teach Love aufmerksam? „Ich habe das zufällig auf Instagram gesehen, festgestellt, dass das an meiner Uni stattfindet – und mich gleich für den ersten Online-Kurs angemel-
det.“ Was ihr gut gefiel: die Offenheit, mit der zum Beispiel über sexuelle Identität ge- redet wurde. Oder über normierte Körperbilder. Und über Pornokonsum. Darüber wird sie als Lehrerin sprechen, hat sie sich vorgenommen. „Oft schauen Kinder schon mit zehn oder elf Jahren Pornos. Ich würde dann darüber reden, was das mit dem normalen Leben zu tun hat“, sagt sie. Und fügt hinzu: „Dass es eben nicht normal ist, eine Frau beim Sex zu misshandeln – das war ein Fallbeispiel aus unserem ersten Kurs: Ein Schüler wollte wissen, ob er wirklich seine Freundin beim Sex schlagen soll. Denn eigentlich wollte er das gar nicht. Weil er das in einem Porno so gesehen hatte, hielt er das für normal.“ Das Weiterbildungs-Angebot Teach Love will auch vermitteln, wie Beziehungen liebe- und lust- voll gelebt werden können sowie Fragen zu LGBTIQ, zu Schwangerschaft und Geburt beantworten. Es geht außerdem darum, welchen Einfluss Pornokonsum, aber auch Instagram und Co. auf Körperbilder und Körpernormen haben.
Was fehlt im Kurs? „Aus meiner Sicht könnte die Rolle der Eltern noch stärker be- handelt werden – etwa: Wie gehe ich damit um, wenn Eltern aus religiösen oder ande- ren Gründen nicht wollen, dass ihre Kinder am Sexualkundeunterricht teilnehmen“, sagt Tanja Johannsen. Ein Lehramtsstu- dent meint in einer Feedback-Runde: „Mir fehlt die männliche Seite. Es wird viel über weibliche Rollenbilder gesprochen, aber auch bei Männern gibt es wahnsinnig viele Probleme, die Druck und Schwierigkeiten machen. Ich würde mir wünschen, dass das beim nächsten Kurs berücksichtigt wird.“
Für Tanja Johannsen hat die Teilnahme am Kurs schon eine Frage beantwortet, die sie immer wieder beschäftigt hatte: „Ich bin lesbisch, und meine Frau und ich haben eine kleine Tochter. Soll ich das auch als Lehrperson offen leben oder soll ich das verheimlichen?“ Inzwischen hat sie für sich beschlossen: Wenn ich als Vorbild agieren möchte, sollte ich nicht verstecken, wie ich liebe und lebe.
Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 8. Juli 2022