Im Klettergarten

Auch wenn in Böhmen nicht die ganz hohen Berge aufragen, scheint es hier fast noch etwas wilder zu sein als im deutschen Teil, der sächsischen Schweiz. Möglicherweise kommt uns das aber auch nur so vor, weil wir uns gerade hoch nach Jetřichovice kurbeln, und das ist nicht gerade ein Spaziergang. „Premi 1 Kilometer“ hat jemand auf die Straße gepinselt. Oh ja, eine Premi, eine Prämie, könnten man nach der gefühlt senkrechten Auffahrt gut gebrauchen. Aber noch ist es dafür zu früh, vor uns liegen noch einige Kilometer – und vor allem Höhenmeter.
Beim Hotel Lipa hantiert eine Berliner Schulklasse mit Messgeräten und Landkarten. „Wir wollen mal sehen, wie wir ohne Handy und GPS klar kommen“, erklärt ein Mädchen und gibt gleich die Daten an ihre Mitschülerin durch, „Nur für den Fall, dass wir kein GPS haben.“
Vermessen kann man hier viel, die Landschaft ist ziemlich einmalig. Nicht nur, was das ständige Auf- und Ab auf unserer Tour angeht, sondern vor allem die Felsen, die aussehen wie übergroße, von Kindern aus feinem Sand aufgeschichtete Tröpfelburgen.
Sand gehört tatsächlich zu den Hauptbestandteilen des Gebirges. Zu seiner Entstehungszeit, vor 140 Millionen Jahren, lag das Gebiet unter einem flachen Binnenmeer. Einmündende Flüsse schwemmten Sand ins Meer. Der lagerte sich wie Kaffeesatz in einer Tasse am Meeresgrund ab und verfestigte sich am Meeresgrund unter dem Druck der nachfolgenden Sandmassen. Minerale zwischen den Sandkörnern wirkten als Kitt – und so formte sich ein heute bis zu 600 Meter dickes Sediment. Das Meer floss ab, tektonische Veränderungen, Eiszeit und Verwitterung sägten und schliffen an den festgebackenen Blöcken – heute ein echtes Paradies für Kletterer.
An den Parkplätzen kurz hinter Jetřichovice rüsten sie sich und steigen in ihre Gurte. Rechts und links der Straße ducken sich unter den wuchernden Felsen die Umgebindehäuser. Das ist die hier übliche Form der Fachwerkhäuser, gestreift wie Zebras sind sie, und der Stolz ihrer Besitzer.
Der Verkehr, vorher kaum wahrnehmbar, wird jetzt dichter. Bus um Bus rollt an uns vorbei – zum Glück nur für ein paar Meter. Ein sicheres Zeichen dafür, dass wir uns dem Einstieg der Wanderroute zum Prebischtor nähern, einem besonders eindrucksvolles Ergebnis der Jahrmillionen dauernden Arbeit der Erdkräfte: Ein riesiges Felsentor, das größte Europas und deshalb das Wahrzeichen der Böhmischen Schweiz. Schnell vorbei und weiter nach Hřensko. Eigentlich ein wunderschöner kleiner Ort, wie er sich da mit den gut renovierten Häusern an den Fluss duckt – übrigens der am tiefsten gelegene Punkt Tschechiens – wären da nicht die Billig-Ramsch-Läden, die in ihren üppigen Auslagen ungeahnte Grausligkeiten für Haus und Garten feilbieten: Gartenzwerge, Hexenkugeln, blecherne Vögel, farbenfrohe Plastikreiher. Es nimmt kein Ende. Rasch weg.
Während unten im Fluss eine Gruppe in die Boote steigen, um gleich durch die Flussklamm der Kamenice zu schippern, quälen wir uns hoch nach Janov durch den Wald – den Jonsdorfer Reißer. Das war bis vor ein paar Jahren ein Einzelzeitfahren von knapp drei Kilometern Länge und 207 Höhenmetern. Kurz und knackig – so wie vieles hier im böhmischen Klettergarten.
erschienen in: Tour 9/2017

Foto:©Martin Kirchner

 

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