Hohe Lage

Da steht sie schon. Ein breitbrüstiger Berg ohne klare Spitze, mächtig, trutzig. Die Schneekoppe,  Sněžka auf Tschechisch. Fast die Hälfte des Jahres zeigt sie sich weiß bepudert oder dick beschneit. Jetzt, Ende August, leuchtet ihr nach oben hin kahler Hang grün, als wir aus Vrchlabírausrollen. Wir sind im Riesengebirge, einem der höchsten Mittelgebirge Europas. Der Name trügt: Das Riesengebirge gehört eigentlich eher zu den kleineren Mittelgebirgen, und „Riesen“, so nannte man früher rutschbahnartige Holzrinnen, mit denen Holz ins Tal befördert wurde. Die Gegend ist rau, in den höchsten Lagen gleicht das Klima dem an der Küste von Grönland. Deswegen wachsen hier Pflanzenarten nebeneinander, die sonst mehrere tausend Kilometer voneinander getrennt sind, zum Beispiel Moltebeeren wie in Skandinavien und Bergkiefern wie in den Alpen.

Wir überlassen das Moltebeerensuchen und Bergkiefernzählen lieber den Wanderern. Ganz hoch bis auf die Sněžka können wir sowieso nicht. Wohl aber auf den einen oder anderen Berg, der zwar nicht ganz an die 1600 Meter der Sněžka rankommt, uns aber auch schon einiges abverlangt.

An den ersten Aufstieg machen wir uns gerade, zunächst noch gemütlich am Fluss entlang durch Dolní Dvůr. Am alten Schulhaus sucht der neue Eigentümer mit einem großen Plakat auf Deutsch nach Sponsoren für den Umbau – er möchte aus der Schule eine kleine Familienpension machen. Idyllisch liegt sie ja, aber ob sich wirklich finanzkräftige Spender aus Deutschland finden werden, weiß man nicht. Die Tafel hängt jedenfalls schon eine ganze Weile. Wir kurbeln hoch nach Strážné, wo der Belag eines frisch angelegten Tennisplatzes unterhalb der Straße rostrot in der Sonne glänzt.

Die Abfahrt runter nach Vrchlabí macht richtig Spass: In sanften Kurven sie sich bergab – für  Menschen wie mich, die nicht die allermutigsten Abfahrer sind, genau das Richtige. Zumal man bei der Abfahrt noch einen Blick auf die neben der Straße weidenden Kühe und Esel werfen kann.

Den Strecken-Tipp  haben wir von Vladimír Hykyš. Er brennt schon seit er denken kann für’s Rennradfahren. Sein erstes Rad, ein Guerciotti, hat er als Junge von seiner Großmutter bekommen. 20.000 Kronen hat es gekostet, ein kleines Vermögen damals, Ende der 70er Jahre.  „Meine Mutter hat das nicht verstanden und fand das Rad viel zu teuer, aber Oma wusste, wie sehr ich den Radsport liebe“, sagt er. Vladimír Hykyš wuchs in Prag auf, die Ausfahrtmöglichkeiten mit dem schönen Guerciotti waren begrenzt. „Nur große Straßen, immer dieselben, Hauptstraßen mit viel Verkehr, alle anderen waren nicht gut genug“, sagt Vladimír. Nach jeder Fahrt hat er das Rad komplett durchgeputzt, Ehrensache. Sein Können und sein Ehrgeiz brachten Vladimír in den 80er Jahren bis in die Tschechische Juniorenmannschaft – Rennsport-Größen wie Radomír Šimůnekund Miloš Fišera, beides erfolgreiche Querfeldeinfahrer und mehrfache Weltmeister, trainierten mit ihm. Zunächst lief alles gut, Vladimír war auf dem Weg zum Profisportler. Doch dann verunglückten Kollegen, später stürzte er selbst heftigst. Schweren Herzens verabschiedete er sich aus dem Profi-Bereich. Aber nicht ganz. Ihm gehört seit mehreren Jahren ein Autohaus in Vrchlabí, er ist Radsport-Sponsor. Selbstverständlich, dass er auch jetzt noch, mit Ende 50, regelmäßig selbst aufs Rad steigt. Über die Szene ist er natürlich bestens informiert.

Als wir unter den sommerschlafenden Skigondeln am Ortsrand von Vrchlabí durchtauchen, haben wir den ersten Teil der Strecke schon hinter uns. Wären wir müde oder würde das Wetter einen Strich durch die Tour machen, könnten wir hier schon aufhören – und hätten zumindest eine nette Feierabendrunde hinter uns. „Diese Tour ist ideal, wenn das Wetter unsicher ist oder wenn man nicht weiß, wie lange man fahren will“, sagt Vladimír. Doch die Sonne strahlt, und wir wollen hoch nach Špindlerův Mlýn, Spindermühle, dorthin, wo – eine kleine Wanderung entfernt – auf 1400 Metern Höhe die Elbe entspringt. Dafür müssen wir eine breite, eigentlich nicht spektakulär steile Straße hochklettern – und haben, ohne dass man’s merkt, mal eben 300 Höhenmeter weg. Oben, am Stausee in Špindlerův Mlýn, sehen wir, wie der Tourismusverband hier versucht, die Saison zu verlängern – zum Beispiel mit ZIP-Line-Springen an der Staumauer, der Soft-Variante von Bungee-Jumping. Groß ist der Andrang nicht. „Don’t worry, be happy“ dudelt es aus den Lautsprechern. Dazu lässt es sich doch gut fahren. Jedenfalls verdrängt er den alten Ralph-Siegel-Hit, der mir seit Stunden im Kopf herumgeht: „Rübezahl, Rübezahl, Herrscher über Berg und Tal.“ – interpretiert von der Ohrwurm-Produzententruppe Dschinghis Khan und so etwas wie die heimliche Hymne des Riesengebirges – gräßlich. Dann doch lieber Bobby McFerrin.

Špindlerův Mlýn sieht man selbst jetzt im Sommer an, dass das Hauptgeschäft mit den Touristen eher im Winter läuft. „Früher haben sich die Autos im Winter bis runter nach Vrchlabí gestaut“, sagt Vladimír. Das sei inzwischen besser geworden – die Auflagen im Nationalpark sind strenger. Doch noch immer steigt die Zahl der Besucher jedes Jahr um etwa 20 Prozent. Und die wollen Ski fahren; neue Skipisten, Lifte, Parkplätze oder Hotels müssten gebaut werden. Auch wenn der Wintersport für den Tourismus und damit Wirtschaft eine Größe ist, auf die viele zählen – ein noch größeres touristisches Angebot ist mit dem Naturschutz nicht vereinbar, warnen Experten. Seit Jahren gibt es deshalb im Nationalpark eine Expertengruppe, die alle beantragten Bauprojekte beurteilt und eine Kompromisslösung sucht. Viele Vorhaben musste sie aber zurückweisen. Wir sind froh, den trotz Nachsaison skirummeligen Ort hinter uns zu lassen.

Bis hoch nach Špindlerova Bouda kriegt die Sache radfahrtechnisch mehr Dynamik. Autos dürfen hier übrigens nur mit Sondergenehmigung hoch. Die Strecke durch den Wald wird merklich steiler. Im Winter rauschen hier die Schlittenfahrer hier runter. Jetzt kommen uns immer wieder Menschen auf Tretrollern entgegen: Jugendgruppen, Familien, Menschen alleine jeglichen Alterns, die auf orangefarbenen Rollern und mit ordentlich Speed den Berg runterbrettern. Meistens mit Helmen auf dem Kopf und den bremsbereiten Fuß überm Hinterrad. Oben, hinter Špindlerova bouda, ist die Grenze nach Polen – und die Mietstation für die Tretroller nebst Helmen. Hier geht die Straße nur noch für Mountainbiker weiter. Früher zog sich hier die Grüne Grenze nach Polen entlang.

Runter geht’s wie rauf, vorsichtig vorbei an den Tretrollertrupps. Kurz vor Vrchlabí treffen wir einen alten Teamkollegen von Vladimír. „Hast Du Licht dabei?“ ruft der im Vorbeifahren seinem ehemaligen Kollegen zu. Der nickt und rauscht weiter. „Er muss noch ein ganzes Stück weiter, dann kommt er in die Dämmerung“, erklärt Vladimír. Uns ist es heute genug – eine schöne Aufwärm- und Kennenrunde war das.

Die nächste Tour soll etwas fordernder sein. „Seid ihr sicher? Gleich da hoch?“ Vladimír hatte uns gewarnt. Und Recht behalten. Schon der erste Aufstieg hoch nach Benecko beschert unserem Höhenmesser 400 Höhenmeter auf gerade mal acht Kilometern. Ordentlich! Oben halten wir kurz an, Aussicht schauen. Die ist phantastisch. Das war übrigens früher noch ganz anders. In den 80er Jahren waren hier ganze Waldflächen abgestorben, statt üppiger Wälder ragte nur noch trauriges Stangengehölz in den Himmel. Eine fast schon apokalyptische Landschaft. Der Grund dafür war der so genannte Saure Regen – für den vor allem die Schwefeldioxidemissionen der Braunkohlenkraftwerke im deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck verantwortlich waren. Ausgerechnet die Wirtschaftskrise in den drei ehemaligen sozialistischen Ländern und die Schließung vieler der unrentabel gewordenen Kohlekraftwerke in den 90er Jahren rettete die Wälder, und zum Rückgang des Waldsterbens. Die UNESCO erklärte das Riesengebirge zum Weltnaturreservat. Was ein Glück, sonst sähe es hier ganz anders aus.

Der Weg auf Berg Nummer drei führt uns nach Horni Misecky. Der Rest der Strecke bis ganz nach oben macht nur Spaß, wenn man sich auf das paris-roubaix-hafte Geruckel einlässt. Jahre und Witterung haben der Asphaltdecke ganz schön zugesetz,t an manchen Stellen schauen die Pflastersteine raus, an anderen Stellen fehlen sie ganz. Aber es lohnt sich dennoch, hochzukurbeln bis Vrbatova Bauda, der Goldhöhenbaude, die übrigens nicht selten Etappenziel der legendären Friedensfahrt war. Das passte: Weil hier bis zur deutschen Okkupation in den 30er Jahren ein inzwischen schon lange abgerissener Stützpunkt der tschechoslowakischen Armee war, hat es hier genügend Platz. Und die Steigung ist auf dem letzten Stück ist zwar fordernd, aber nie extrem steil. Nur eben die Straße. Runter deshalb lieber vorsichtig und sachte.

 

Erschienen in: TOUR 9/2019

Strecke 1, Spindlermuehle, Bruecke ueber den Elb-Staudamm

Fotos: ©Martin Kirchner