„Wie unkompliziert das hier funktioniert!“ war der erste Gedanke von Christina Kramer. 2009 kam sie aus Deutschland nach Wien, um dort Vergleichende Literaturwissenschaften zu studieren. Anreisen, die Referatsstelle Zulassung finden – auch das kein Hexenwerk, immer den blauen Hinweisschildern nach –, dort in einem der Büros im Hauptgebäude der Uni nahe dem Audimax eine Wartenummer ziehen, Personalausweis und Abizeugnis herzeigen, ein Passfoto für den Studentenausweis parat haben und sagen, was man studieren möchte. 18,70 Euro Beitrag an die „Österreichische HochschülerInnenschaft“ (ÖH) überweisen, das war’s. Eingeschrieben, auf Österreichisch: inskribiert. Wirklich unkompliziert – sofern man sich nicht für eines der zulassungsbeschränkten Fächer wie etwa Human- oder Zahnmedizin, Psychologie oder Kommunikationswissenschaften entschieden hat. Für die gibt es eine begrenzte Anzahl an Plätzen und deshalb ein Aufnahmeverfahren.
Christina Kramer ist kein Flüchtling vor dem Numerus clausus wie viele ihrer deutschen Kommilitonen, die sich nicht nur Freunde an der Uni machen. „Ich kann verstehen, dass diese Leute skeptisch aufgenommen werden“, sagt sie. Trotzdem über- wiege auch bei Österreichern das Verständnis: „Wenn es andersherum wäre, würde ich es genauso machen, höre ich öfter.“
Johannes Ruland aus Ludwigsburg, der an der Uni Wien seinen Bachelor in Soziologie gemacht hat und jetzt an der FH Burgenland in Eisenstadt an seinem Master in An- gewandtem Wissensmanagement arbeitet, hat der Zufall nach Österreich geführt – die Uni Wien hatte auf seine Bewerbung am schnellsten geantwortet. Vergleichs- weise blauäugig sei er nur wenige Tage vor Semesterbeginn nach Wien gereist, beeindruckt von der Stadt, ihren Prachtbauten, der Größe. Er war verdammt spät dran mit der Zimmersuche, hatte aber Glück und fand bald ein Zimmer in einer Zweier-WG. Bei der Suche machte Ruland Bekanntschaft mit einer Wiener Besonderheit, dem Nummerierungssystem. Oft haben Adressen drei Nummern, etwa Schwarzspanierstraße 15/2/5. Inzwischen weiß Ruland, was es damit auf sich hat: „Die erste Zahl ist die Hausnummer, die zweite bezeichnet die Stiegennummer, also die Treppennummer in den oft verwinkelten Treppenhäusern, die dritte Nummer die Wohnungsnummer.“
Nach Christina Kramers Erfahrung sollte man bei der Zimmersuche nicht nur in die entsprechenden Internetportale, zum Beispiel Stuwo.at, Home4students.at, Job- wohnen.at oder Willhaben.at, sondern auch in die Internetportale der Tageszeitung schauen unter der Rubrik WG-Zimmer-Suche. Einkommensnachweise darf ein Vermieter in Österreich übrigens nach Auskunft des Mieterschutzes Österreichs nicht verlangen. „Ich wohne jetzt mit einer Tirolerin und einem Schweden in einer WG. Was unsere Eltern oder wir arbeiten, hat unseren Vermieter keinen Moment lang interessiert“, sagt Christina Kramer.
Apropos Ländervergleiche: „Gerade am Anfang machen viele Deutsche den Fehler, dauernd zu schauen: Wie ist es in Österreich? Wie ist es in Deutschland“, sagt Kramer. „Dadurch entstehen viele Pauschalisierungen. Das ist nachvollziehbar, aber störend im Gespräch.“ Und selbst, wenn vieles auf den ersten Blick vertraut zu sein scheint: „Man sollte nie vergessen, dass man in einem anderen Land ist. In einem Land mit einer anderen Mentalität und einer anderen Sprache“, meint die Hamburgerin Marthe Lola Deutschmann. Sie studiert am Max Reinhardt Seminar Schauspiel. Im Dialekt-Sprechen würde sie sich nie versuchen. Auch Johannes Ruland, der nach acht Jahren in Österreich selbst mit leicht angewienertem Singsang spricht, sagt, es sei peinlich, wenn Deutsche zwanghaft versuchten, Dialekte nachzuahmen.
Ja, es gebe nicht nur, was die Sprache angehe, ein paar ungeschriebene Gesetze, sagt Gerhard Volz, der beim Österreichischen Austauschdienst für das Erasmus- Programm zuständig ist, und damit auch für Studierende, die einen Auslandsaufenthalt planen oder zum Studium nach Österreich kommen. In Österreich rede man in heiklen Situationen nun mal gerne um den heißen Brei herum, sei nach wie vor ein wenig formell. „Selbst wenn man sich nicht mehr ständig mit ,Frau Professor‘ und ,Herr Doktor‘ anspricht – in Mails und beim ersten Kontakt ist es ratsam, den Titel zu verwenden“, sagt Volz. Und von we- gen Umgangsformen: Ein lässiges „Hallo“ zum Professor, den man auf dem Flur trifft, kommt nicht so gut an. Für „Grüß Gott“ sollte schon Zeit sein.
Und doch gibt es ein paar Wörter und Redewendungen, die Deutsche erlernen sollten: Ein Sackerl braucht man zum Einkaufen oder um die Hinterlassenschaften der Hunde zu entsorgen. Dazu hat die Stadt Wien eine PR-Kampagne entwickelt – mit dem Slogan „Nimm ein Sackerl für mein Gackerl!“ Beim Trafikanten kauft man sei- ne Zeitung, im Kaffeehaus bestellt man sich eine Melange, wenn man einen Cappuccino will, und den Müll wirft man in den Mistkübel. Die Bim ist die Straßenbahn in Wien, Tschick die Zigarette, der Stuhl ist – ob gepolstert oder nicht – ein Sessel und so weiter.
„Die größte Überraschung ist für viele, mit welcher Menge an Studienkollegen man anfängt. Wir haben hier pro Jahr an der Uni Wien etwa 15 000 Neuanfänger“, sagt Roland Steinacher, Leiter des Studienservice der Uni Wien. Erstsemester können theoretisch so viele Fächer belegen wie sie wollen. Das sorgt für volle Hörsäle zu Studienbeginn und für teils ungünstige Betreuungsverhältnisse. Mit Tutorien, Streaming- oder E-Learning Angeboten versuche man, gegenzusteuern. Nach ein, zwei Semestern relativiere sich das.
„Das geht sich schon aus.“ Diesen Satz hört man häufig in Österreich. In ihm schwingt Gelassenheit mit – und ein wenig Fatalismus. „Es geht hier manchmal etwas besonnener zu, etwas weniger hektisch“, ist Christina Kramers Erfahrung. „Für mich hat das hohen Sympathiewert.“
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 23. April 2015
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