Chemie studieren – nur für Überflieger? Wie schwierig das Studium wirklich ist und welche Chancen es birgt, sagt Hans-Ulrich Reißig, Professor für Organische Chemie.
Im vergangenen Jahr tourte Ihre amerikanische Kollegin Donna Nelson, Professorin an der University of Oklahoma, auch durch Deutschland. Sie hielt an Universitäten Vorträge über ihre Beratertätigkeit für Vince Gilligan, Regisseur der mehrfach ausgezeichneten TV-Serie Breaking Bad. In der Serie geht es um einen Chemiker, der an Lungenkrebs erkrankt ist und versucht, die finanziellen Probleme seiner Familie durch die Herstellung von Methamphetamin (Crystal Meth) zu beheben.
Was bringen Aktionen wie die von Chemikerin Nelson für Ihr Fach?
Reißig: Prinzipiell finde ich es sehr gut, wenn über naturwissenschaftliche Fächer in unterhaltsamer Weise informiert wird. Frau Nelson hat ja nicht erklärt, wie man dank chemischer Kenntnisse Drogen herstellt, sondern über ihre Beratertätigkeit für die Serie informiert – und so ein weiteres Berufsfeld für Chemiker einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt. Dass sich Chemiker und andere Naturwissenschaftler in öffentliche Debatten einmischen, ist höchste Zeit. Zum Glück hat das Fach nicht mehr so einen schlechten Ruf wie noch vor 20 Jahren. Frau Nelson ist übrigens inzwischen zur zukünftigen Präsidentin der amerikanischen Chemikergesellschaft gewählt worden – ihre Popularität hat ihr also nicht geschadet, im Gegenteil.
Wenn sich Studienanfänger für das Fach Chemie entscheiden, was sollten sie sich vor dem Studium klar machen?
Reißig: Das Chemiestudium war schon immer sehr stark strukturiert, manche sagen verschult. Die Struktur braucht es, weil nur so die praktischen Fähigkeiten trainiert werden können. Chemie ist nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch ein Handwerk. Auch wenn sich abzeichnet, dass zukünftig Laborautomaten manche Routinearbeiten übernehmen werden.
Man sollte sich außerdem klar machen, dass man sehr viel lernen muss – die Grundlagen der Chemie wie auch die Grundlagen der benachbarten Fächer Mathematik und Physik, manchmal auch Biologie, sollten ziemlich bald, also schon im Grundstudium, präsent sein. Das wird von manchen unterschätzt. Man muss die Fähigkeit haben, lernen zu können und Dinge zu behalten, wie Vokabeln. Das Periodensystem hat mehr als 90 stabile Elemente und von den meisten Elementen gibt es viele Verbindungen. Es wird oft unterschätzt, wie divers das ist – doch die Komplexität und die Quantität der Studieninhalte ist für viele Studienanfänger in anderen Fächern ebenfalls ein Problem. Doch in der Chemie gibt es viele Regeln, die einem das Verstehen erleichtern. Was aber bei uns wirklich anders ist als in anderen Disziplinen, ist der Laborbetrieb, der richtig anstrengend sein kann.
Was kommt im Laborbetrieb auf die Studierenden zu?
Reißig: Schon in den ersten Semestern verbringen die Studierenden sehr, sehr viel Zeit im Labor. Die Laborpraktika umfassen bis zu 20 Wochenstunden. Das kann wirklich fordernd sein: Man steht, man läuft herum, man schaut. In den Laboratorien riecht es manchmal streng, trotz guter Ventilation. Und natürlich ist man unsicher, gerade in den ersten Semestern. Wenn ein Versuch trotz Anleitung durch die Assistenten nicht so klappt, wie er soll, ist man frustriert. Man muss ähnliches Stehvermögen haben wie ein Mediziner. In den ersten Semestern haben wir deshalb einen recht hohen Schwund. Dennoch, die Laborpraktika sind unverzichtbar, um später eigenständige Forschung machen zu können. Auch im Beruf muss man unter Umständen lange Zeit im Labor verbringen.
Der Chemie-Student steht also ständig im Labor?
Reißig: Nein, natürlich nur phasenweise während der Praktika. Wie in anderen Studiengängen auch gehören auch im Chemie-Studium, Vorlesungen, Übungen und Vorträge zu den Studieninhalten. Wem der Laborbetrieb nicht liegt, aber dennoch von Chemie fasziniert ist, der kann auch in der theoretischen Chemie seine Bestimmung finden. Die Computerchemie, in der man chemische Reaktionen auf sehr hohem Niveau so rechnen kann, dass das der Realität sehr nahe kommt, ist inzwischen ein unverzichtbares Instrument geworden – ob in der Forschung an der Uni oder in der chemisch-pharmazeutischen Industrie. Diese Richtung ist besonders für mathematisch Interessierte sehr geeignet.
Durch die Umstellung auf das Bachelor- und Master-System müssen nicht mehr alle alles machen, sondern man kann sich spätestens im Masterstudium spezialisieren: etwa in Richtung Life Science, medizinischer Chemie, Materialwissenschaften oder Chemische Technologie, je nachdem was die jeweilige Universität anbietet.
Wie wichtig ist Mathematik im Studium?
Reißig: Wir brauchen keine Star-Mathematiker, aber mit der Standard-Mathematik sollte man gut zurecht kommen. Zum Semesterbeginn bieten aber viele Unis einen Brückenkurs in Mathematik an, der wird zumindest an der FU Berlin, wo ich gelehrt habe, gut nachgefragt.
Welche Eigenschaften sollte man noch für’s Studium mitbringen?
Reißig: Man sollte Spaß dran haben, Dinge zu generieren und zu beobachten. Die Chemie ist eine der wenigen, wenn nicht sogar momentan die einzige Wissenschaft, die den Gegenstand, den sie untersucht, selber herstellen kann. Die sinnliche Komponente gehört dazu, beobachten und beschreiben zu können: Wie verfärbt sich das, warum gibt es da einen Niederschlag, wie riecht das, warum ist das flüssig.
Wie viel Zeit sollte man für ein Chemie-Studium veranschlagen?
Reißig: Nach dem Master ist das Studium für die wenigsten schon vorüber: Fast 90 Prozent der Master-Studierenden schließen eine Promotion an. Die dauert im Schnitt dreieinhalb bis vier Jahre. Finanziert wird die Promotion durch eine Stelle an der Uni, Stipendien oder Drittmittel. Es gibt eigentlich niemanden, der ohne Finanzierung bei uns promoviert. Insgesamt kann das Studium inklusive Promotion schon neun bis zehn Jahre dauern, und viele schließen auch noch einen Post-Doc-Aufenthalt im Ausland an, um ihre Ausbildung zu ergänzen – aber auch, weil Chemie Spaß macht.
Zur Person: Hans-Ulrich Reißig (65) ist Professor für Organische Chemie. Er stammt aus Helmbrechts in Oberfranken und forschte bereits als Schüler auf dem Gebiet der makromolekularen Chemie. Er studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Chemie, promovierte dort und war als Post-Doktorand an der University of British Columbia in Vancouver tätig. Er lehrte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg, wo er sich 1984 habilitierte, und hatte anschließend Professuren an der TH Darmstadt, an der TU Dresden und von 1999 bis zu seiner Emeritierung im April diesen Jahres an der Freien Universität Berlin inne.
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Erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 11. November 2015