
Zum Monte Amiata ist es noch ein ganzes Stück. Foto: ©Martin Kirchner
Renos Meinung steht fest: „Monte Amiata? Der Berg ist ein echter Mörder.“ Ganz schön drastische Worte für einen auf den ersten Blick gar nicht so gefährlich aussehenden Berg. Die Fakten: Der Monte Amiata liegt im südöstlichen Teil der Toskana und ist eigentlich ein erloschener Vulkan – was man ihm mit viel Phantasie ansieht: Sein ehemaliger Kraterrand streckt sich gut sichtbar als höchste Erhebung aus der toskanischen Hügellandschaft. Auf den mehr als 1700 Meter hohen Gipfel, die Vetta Amiata, zieht es Reno jedes Mal, wenn er in der Südtoskana und im angrenzenden Lazio Ferien macht.
Reno, Mitte 40 und Restaurator aus Neustrelitz in Mecklenburg-Vorpommern, verbringt so viel freie Zeit wie möglich in Italien, seit 2013 kommt das Rennrad mit. Kein Tag ohne Touren, meist mit den Jungs, einer Gruppe von Italienern – und kein Urlaub ohne mindestens einmal auf den Riesen. „Ich frage mich jedes Mal: Warum tust du dir das schon wieder an? Aber irgendwie gehört es wohl dazu“, sagt Reno.
Im Sommer, wenn sich die Hitze über das Land spannt und alles langsam macht, wenn sich die kulturhungrigen Touristen in den schick herausgeputzten Toskana-Städtchen drängen, dann ist so eine Tour auf dem Amiata eine gute Sache – sollte man meinen. Verglichen mit dem Rest der Toskana kommen wesentlich weniger Besucher in das Amiata-Gebiet, die meisten zum Wandern. Alles geht hier etwas gemütlicher zu, weniger aufgeregt als in Pienza, Siena, San Gimigniano. Ein paar Grad kühler ist es auch. Was macht also den Berg zum Mörder? Wir testen das.
Bis hoch zum Gipfel führen diverse gut asphaltieret Straßen. Warum dann nicht gleich die kürzeste nehmen? Die hat Reno bislang noch nicht ausprobiert, er und seine Jungs haben ihre Spezialrunde mit ein paar Schleifen mehr. Mein Begleiter und ich entscheiden uns von Santa Fiora kommend für die Auffahrt über Castel del Piano. Kann man ja mal versuchen, so ganz direkt. Der Anfang fährt sich gut, über Bagnone in gemächlichen Kurven nach Archidosso. Kurz nach dem Ort riecht es stechend nach faulen Eiern und Schwefel. Neben der Straße ragen die fünf Schlote eines geothermischen Kraftwerks auf – daher der etwas gewöhnungsbedürftige Geruch.
Auf dem kleinen Parkplatz vorm Kraftwerk lädt Pablo sein Rad aus dem Kofferraum, ein Colnago Master in gelb-blau aus den 90ern, super gepflegt und chromblitzend. Bevor Pablo aufsteigt, klopft er auf seinen beträchtlichen Bauch. „Der muss weg“, sagt er. Pablo hat lange pausiert mit dem Rennradfahren und im letzten Jahr beschlossen, dass er wieder fit werden muss. Also fährt er jeden zweiten Abend von Santa Fiora aus hierher, um eine kleine 20 km Feierabendrunde zu drehen. Irgendwann, wenn er genügten Training hat, will er auch hoch auf den Amiata – doch zwischen ihm und dem Großen liegen noch ein paar Trainingskilometer, meint Pablo, lacht und schwingt sich auf sein Rad. Wir wollen weiter hoch und lassen Pablo bald hinter uns.
Bis Castel del Piano läuft alles rund, aber nach dem Ort wird’s ernst: Zäh windet sich die Straße durch die Kastanienplantagen, die zwar malerisch aussehen und etwas Schatten spenden, aber die Auffahrt auch nicht unbedingt flacher machen. Und so geht es Kilometer um Kilometer. Steil – steiler – Amiata dekliniere ich für mich, als ich mich die xte Steigung hochquäle, immer wieder an angejahrten Alberghi vorbei. Die lokalen Tourismusbehörden hatten vor einigen Jahren große Hoffnung in den Skitourismus gesetzt, hatten Skilifte bauen und besagte Alberghi für Wintersportler parat halten lassen – doch was in den letzten Jahren fehlte, war der Schnee. Die Winter am Amiata waren einfach zu mild.

Manche glauben an die Heilkraft des Schlamms: An den heissen Quellen bei Saturnia. Foto: ©Martin Kirchner
Irgendwann sind wir oben. Erschöpft, aber stolz. Sehr stolz. Ich muss an Renos Frau Tina denken, die sich auch schon einmal auf den Riesen hochgepeinigt hat. „Oben hatte ich vor Freude ein Tränchen im Auge“, höre ich sie noch sagen – und kann sie verstehen. Wir haben’s geschafft! Mein Begleiter dämpft meine Euphorie – da, wo die Straße endet, ist eben noch nicht ganz oben. Also Räder sicher abstellen und zu Fuß hoch über die breite grüne Skipiste bis zum Gipfel. Den markiert ein monumentales Giplfelkreuz, das an einen Mini-Eifelturm erinnert und eine sehr bewegte Geschichte hat: 1910 errichtet, mehrfach vom Blitz getroffen, dann im Zweiten Weltkrieg von den Nazis nach ihrem Abzug gesprengt, von Papst Pius XII. im Jahr1946 wieder instand gesetzt. Doch das Kreuz ist noch immer nicht der Gipfel, es geht noch ein paar Meter höher hinauf zur 100 m entfernten Madonna degli Scouts, der Schutzheiligen der Pfadfinder, die auf Felsblöcken in Gebetshaltung nach Westen schaut. Uns reicht aber der Blick vom Gipfelkreuz aus. Er ist grandios: Im Osten auf das gut 900 m tiefer gelegene Abbadia San Salvatore, Richtung Umbrien erahnen wir die riesige Fläche des Lago Trasimeno und dahinter, etwas im Dunst, zwei Bergzüge, es müssen die Monti Sibillini und die Abruzzen sein.
Nach so viel Gipfelglück eiern wir zu Fuß über die steile Wiese runter zu den Rädern. Ein Café und ein Panino in der Bar, dann – ein Tipp von Reno – holen wir uns ein paar von den Zeitungen, die der Wirt der Bar La Vetta immer fürsorglich für Radler aufbewahrt. Die stopfen wir uns vorne ins Trikot, denn die Abfahrt wird schnell und kalt, das hat uns Reno prophezeit. Mit den Zeitungen als zusätzliche Windstopper im Trikot rauschen wir zackig und gut gewärmt den Riesen runter. Am nächsten Tag entscheiden wir uns für Toskana-Sightseeing vom Rad aus – und legen unsere Tour dorthin, wo einer der prominentesten Weine der Gegend gedeiht: Der Brunello.
Von Abbadia San Salvatore aus, einer auf den ersten Blick eher unscheinbaren ehemaligen Bergarbeiterstadt, geht es durch kühle Wälder über Castiglione D’Orica, einen schönen, verschlafen wirkenden Ort. Und auf der Abfahrt sind wir mittendrin in der Vorzeige-Toskana: Sanfte Hügel, begrenzt von wie Perlen an einer Kette aufgereihten Bäumen, dazwischen karge Crete-Hügel, ab und zu ein Hof, entweder supergepflegt oder malerisch-verfallen. In Bagno Vignoni bauen wir einen kurzen Stopp ein. Im Zentrum des 3000 Jahre alten Thermalbadeorts liegt ein großes Bassin mit 40 Grad warmem Wasser. Gebadet werden darf dort leider nicht mehr. Uns stört das nicht, denn wir haben für die nächsten Tage eine Tour nach Saturnia auf dem Plan und wollen, wenn es nicht zu voll ist, einmal Baden an der Cascate del Mulino, dem Wasserfall mit den runden Naturbecken, den so genannten Sinterbecken, einlegen und uns vor der nächsten Etappe im 37 Grad heißen Thermalwasser entspannen.

Ein Stopp in Bagno Vignoni lohnt sich – obwohl man in den Thermalbecken leider nicht mehr baden darf. Foto: ©Martin Kirchner
In Bagno Vignoni haben sich rund um das ehemalige Badebecken jede Menge Bars, Restaurants und Cafés eher mondäner Art angesiedelt. Die Gäste posieren für Fotos, wir haben nach einer kurzen Pause wieder genug Kraft, um noch etwas höher zu fahren: Über eine wirklich mörderisch steile Strada bianca, also eine nicht asphaltierte Straße, rauf nach Vignoni. Da quälen sich übrigens auch die Eroica-Fahrer rauf. Es ist nur bedingt spaßig, sich über die Schotterstraße mühsam den Berg hochzuackern – aber der Aufstieg ist zwar hart, aber kurz, und der Ausblick entlohnt für die Mühe. Doch schon droht die Abfahrt. Schotterstraße und steil – schon bergauf kein Spaß, aber für mich als eher zögerliche Abfahrerin eine echte Herausforderung. Zugegeben, die Knie schlottern etwas, als ich endlich unten bin.
Bis Montalcino geht es über die Cassia, unspektakulär und gut machbar, ohne allzu viel Verkehr. Und da liegt er dann auch schon, der Ort, durch den Brunello weltbekannt wurde. Schon bei der Anfahrt kommen wir durch Weinberge, gesäumt von Zypressen und vorbei an den ersten Cantina-Schildern, die auf die Kellereien hinweisen, in denen der edle Tropfen gekeltert wird. Montalcino selbst liegt auf einem Hügel, umgeben von Festungsanlagen – und wird gerne von Weinfans aus aller Welt besucht. Wir rumpeln einmal durch die Altstadt, schön langsam wegen der Touristengruppen, die von Weinprobe zu Weinprobe ziehen, machen noch einen Fotostop auf dem Piazza del Popolo beim handtuchschmalen Rathaus – und ziehen weiter. Zuviel Rummel hier.
Beschwingt geht es durch die Toskana-Landschaft wieder Richtung Amiata. Schon werden die Straßen ruhiger, die Wälder spenden freundlicherweise Schatten und Kühle. Und der Amiata gerät auch wieder ins Sichtfeld. Der unvermeidliche, der Riese. Vielleicht nächstes Jahr wieder auf den Mörderberg? Irgendwie hat er es uns angetan.
Erschienen in: TOUR 12/2021