Wenn BWL-Studentin Jessica Onken eine Klausur schreiben möchte, räumt sie erstmal den Küchentisch frei. Dann sagt sie ihrem Freund Bescheid, damit er nicht in ihre Prüfung reinplatzt – etwa, weil er sich etwas aus dem Kühlschrank holen will, der steht nun mal in ihrem Prüfungsraum, der Küche. Notebook und Tablet platziert sie auf dem leeren Küchentisch. Über das Verwaltungsportal ihrer Hochschule loggt sie sich ein, um sich für die Klausur anzumelden. Keine zehn Minuten später meldet sich der Proctor, der Aufpasser, bei ihr. Der überwacht online über die Kameras ihres Notebooks und ihres Tablets, dass Jessica Onken nicht schummelt. Für ihr Notebook muss die Studentin dem Überwacher den Zugriff mit einer Fernsteuerungsapp erlauben. Bevor es losgeht, hält sie ihren Personalausweis in die Kamera. Dann filmt sie mit dem Tablet den Raum ab – so ist sicher gestellt, dass die Wände nicht mit Spickzetteln präpariert sind. Sobald das Tablett dann so lagert, dass die Kamera Jessicas Hände und ihr Gesicht im Profil filmen kann, beginnt die Prüfung.
Jessica Onken ist 23 Jahre alt und arbeitet als Bankkauffrau im westfälischen Siegen. An der Internationalen Fachhochschule Bad Honnef – Bonn (IUBH) hat sie neben ihrer Arbeit ein BWL-Fernstudium aufgenommen, Abschlussziel Bachelor. „So wie die meisten meiner Kollegen nutzen ich zur Weiterbildung auch die Lehrgänge, die unsere Bank anbietet. Das BWL-Studium ergänzt das“, sagt Jessica Onken. Dass die IUBH auch Online-Klausuren anbietet, war ihr zunächst nicht bewusst. „Mir ging es vor allem um die größtmögliche Flexibilität, und die sah ich bei einer Fernuni gewährleistet“, sagt die junge Frau. Die Möglichkeit, ihr Wissen online abprüfen zu lassen, kommt ihr besonders entgegen. Bevor die Hochschule diese Option eingeführt hatte, musste Jessica Onken eine dreiviertel Stunde von ihrem Wohnort aus nach Dortmund fahren, um dort im Prüfungszentrum der Uni zusammen mit anderen Studierenden ihre Klausur zu schreiben. Jetzt kann sie spontan entscheiden, ob der Stoff so gut sitzt, dass sie sich prüfen lassen will. Das darf abends, nachts oder am Wochenende sein. Der Fahrweg von immerhin insgesamt anderthalb Stunden fällt auch weg – in die Küche hat sie es nicht so weit.
Bislang ist die IUBH die einzige Hochschule, die Online-Klausuren sozusagen on demand, also auf Nachfrage, anbietet. „Wir haben im Rahmen unserer Recherchen für eine Trendstudie Fernstudium aus dem Jahr 2016 herausgefunden, dass Flexibilität einer großen Gruppe von Fernstudierenden äußerst wichtig ist“, sagt Holger Sommerfeldt, akademischer Leiter der Fernstudienprogramme an der IUBH, „das bezieht sich nicht nur darauf, wann man ein Studium aufnehmen kann und von wo aus man lernen kann, sondern auch auf die Prüfungen.“
Was die Flexiblität anbelangt, hat sich bei den Fernhochschulen schon viel getan: Bei den meisten können die Studierenden zu einem beliebigen Zeitpunkt ihr Studium beginnen. Auch der Ort, an dem sie sich prüfen lassen können, ist relativ frei wählbar. Zahlreiche Fernuniversitäten arbeiten außerdem mit Goethe-Instituten zusammen, mit deutschen Botschaftsvertretungen oder deutschen Schulen, so dass sich im Ausland lebende Studierende vor Ort prüfen lassen können.
Christian Roiter, ebenfalls Fern-Student an der IUBH, geht ins Gartenhaus, um seine Klausur abzulegen. Er wohnt bei seinen Eltern in einem kleinen Dorf in Oberösterreich. Für ihn ist das Fernstudium die einzige Möglichkeit, um überhaupt studieren zu können. Der 20-Jährige lebt mit dem Asperger-Syndrom. Schon die Schulzeit zu überstehen, war für ihn purer Stress. „Direkte Kommunikation bringt ihn an seine Grenzen“, sagt seine Mutter Hermine Roiter, „Dass er jetzt für die Klausuren nicht mehr wo anders hin muss, ist ein Traum.“
Und der Datenschutz? „Unsere Studierende müssen vor jeder Prüfung ihr Einverständnis dazu geben, sich überwachen zu lassen“, sagt Professor Sommerfeldt von der IUBH, „Wir informieren vor jeder Prüfung über die Art und Weise der Datenerhebung und Verarbeitung sowie auch ihre Speicherung. Für die Speicherung haben wir ein Rechenzentrum in Kanada beauftragt, das die Date nach 30 Tagen löscht.“ Die Firma, die für die Überwachung der die sogenannten Proctors, Überwacher, für die Online-Klausuren stellt, sitzt in Atlanta, USA. Ein Proctor darf nicht mehr als zeitgleich sechs Prüflinge betreuen, sonst wird es unübersichtlich.
Andere Fernhochschulen – auch solche, die bereits stark auf E-Learning setzen – sehen bei der Einführung von Online-Klausuren noch Schwierigkeiten. „Solange nicht alle für uns relevanten Fragen zu Datenschutz und Datensicherheit sowie Betrugsgefahr vollständig ausgeräumt sind und damit das Thema Rechtssicherheit für unsere Studierenden geklärt ist, ziehen wir die Vor-Ort-Klausuren in unseren Studienzentren bei“, sagt etwa Wolfram Behm, Chief Information Officer der SRH Fernhochschule – The Mobile University. Auch bei WINGS, dem Fernstudienanbieter der Hochschule Wismar, sieht man die Entwicklung eher kritisch – vor allem, was den Datenschutzes angeht: „Speicherung, Weitergabe oder Abruf durch fremde Dritte sowie der Zugang auf den Rechner des Prüflings sollte eindeutig ausgeschlossen werden können“, betont WINGS-Sprecher André Senechal. Die IST-Hochschule für Fernstudierende plant allerdings, Zwischenprüfungen perspektivisch online durchzuführen. Wann es so weit sein wird, steht noch nicht genau fest.
Marc Zwiebler, Profi-Badmintonspieler, macht gerade an der IUBH sein Master-Studium in General Management. Er reist viel, die Online-Klausuren kommen auch ihm entgegen. Aber nicht alle. Jetzt steht bald eine Klausur in angewandter Statistik an. Die will er lieber komplett handschriftlich machen, so wie in der Schule: „Ich fühle mich wohler, wenn ich meine Rechnungen und Formeln nicht in den Computer eintippen muss kann“, sagt er. Zwei leere weiße Blätter dürfte er theoretisch während einer Online-Klausur neben seinem Rechner liegen haben. Auch die müsste er natürlich vorher in die Kamera halten. Da ist der Proctor streng.
erschienen in: Süddeutsche Zeitung, 21. Juni 2017